piwik no script img

Stetig besuchen Eimsbütteler Pärchen die Ikea-Filiale in Schnelsen – obwohl es ihnen nicht guttutVoll beladen

AM RAND

Klaus Irler

Eines der Phänomene am nördlichen Stadtrand ist der Ikea-Tourismus. Ikea-Touristen kommen aus Eimsbüttel, fahren mit der U2 bis ­Niendorf-Nord und steigen dann in den HVV-Bus mit der Nummer 284, der in sieben Minuten zu Ikea in Schnelsen fährt. „Ikea Schnelsen“ steht vorne auf dem Bus als Endhaltestelle. Dabei wäre die wirkliche Adresse viel schöner. Sie heißt: „Wunderbrunnen“.

Der Straßenname stammt aus einem Märchen, das der Germanist Karl Müllenhoff im 19. Jahrhundert in einer seiner Sammlungen von norddeutschen Sagen, Märchen und Lieder festgehalten hat. 1940 bedienten sich die Schnelsener bei Müllenhoff und nannten die Straße am Schnelsener Wasserwerk „Wunderbrunnen“. Das Wasserwerk gibt es noch, es steht neben Ikea und ist vergleichsweise klein.

In dem Märchen geht es um zwei Schwestern, die in einen Wunderbrunnen steigen: Zuerst die kleine Schwester. Sie begegnet einem vollen Backofen, einem Apfelbaum voller Äpfel und einer Kuh mit vollem Euter. Das Mädchen wird aufgefordert, sich zu bedienen, bleibt aber bescheiden und nimmt nur das, was sie unbedingt braucht. Dann steigt die große Schwester hinab, trifft ebenfalls den Backofen, den Apfelbaum und die Kuh, wird auch aufgefordert, sich zu bedienen und nimmt mit, was irgendwie geht. Voll beladen bricht sie durchs Gebälk und muss im Brunnen bleiben.

Die heutigen Wunderbrunnen-Besucher sehe ich nach ihrem Ikea-Besuch immer in der U-Bahn sitzen auf dem Weg zurück in die Stadt. Sie sind voll bepackt mit Kartons und Taschen, schleppen, was man eben so mitkriegt in der U-Bahn. Einmal sah ich auch jemand mit einem voll beladenen Ikea-Einkaufswagen in der U-Bahn.

Die Wunderbrunnen-Besucher sehen oft gestresst aus. In der Regel sind es Eimsbütteler Pärchen, er mit Bart, sie mit selbst gestricktem Schal, es geht um die erste gemeinsame Wohnung. Schweigend sitzen sie da, hatten einen miesen Nachmittag und wissen, dass das, was nun kommt, auch kein Spaß ist: Kartons heimschleppen, auspacken, aufbauen und dann entscheiden, ob das neue Teil dem entspricht, was man sich vorgestellt hat.

Mich wundert, dass Ikea noch keine Servicekräfte vorhält, die beim Transport der Möbel mit öffentlichen Verkehrsmitteln helfen. Die Mitarbeiter könnten psychologisch geschult sein und auch beim Stressabbau helfen. Sie könnten die schlechte Laune abbauen –nach den langen Wegen und Meinungsverschiedenheiten.

Aber Ikea hilft den Kunden nicht. Bei Ikea macht der Kunde ja so viel wie möglich selber, abgesehen vom Aufbau auch das Einscannen an der Kasse und das abkassieren. Die Kunden greifen zu wie die große Schwester im Märchen und danach lässt Ikea sie hängen.

Ikea ist der Wunderbrunnen mit nur einem Unterschied: Die Leute finden voll bepackt wieder nach draußen und sie kommen meistens irgendwann zurück. Im Märchen wäre das undenkbar. Im Märchen wäre die große Schwester dankbar, wieder an der frischen Luft zu sein – und ward nie mehr gesehen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen