Stephan Hermlin, der große alte Mann der DDR-Literatur, ist tot. Zuletzt war er wegen seiner geschönten Biographie in die Kritik geraten. Hermlins Bedeutung lag weniger in seinem literarischen Schaffen als in seiner Funktion als Mentor und

Stephan Hermlin, der große alte Mann der DDR-Literatur, ist tot. Zuletzt war er wegen seiner geschönten Biographie in die Kritik geraten. Hermlins Bedeutung lag weniger in seinem literarischen Schaffen als in seiner Funktion als Mentor und Mittler.

Die Literatur als Überlebensmittel

Lügner, Fälscher, Hochstapler – so oder so ähnlich lauteten die Schlagworte, gegen die sich Stephan Hermlin in den letzten Monaten seines Lebens zur Wehr setzen mußte. Er, der große alte Mann der DDR-Literatur, der wie kein anderer einen zum Mythos erstarrten Antifaschismus in seiner Person repräsentierte, habe Teile seiner Biographie geschönt, erfunden, zurechtgebogen, lautete der massive Vorwurf, den der Frankfurter Literaturkritiker Karl Corino gegen ihn erhob. Seine Herkunft sei weniger großbürgerlich, als er sie immer dargestellt habe, sein antifaschistischer Widerstand weniger heldenhaft, dafür habe er sein Judentum tunlichst verschwiegen und durch die Heroisierung seiner Biographie sein enormes Renommee in der DDR überhaupt erst begründet.

Die Aufregung in den Feuilletons war groß. Wieder einmal schien es darum zu gehen, einen DDR-Repräsentanten auf Normalmaß zurechtzustutzen, wieder einmal weinten die Wahrheitsbesitzer und Moralinhaber Krokodilstränen, und die öffentliche Inspektion eines Lebens pendelte sich auf Käpt'n-Blaubär-Club-Niveau ein: wahr oder gelogen?

Hermlin reagierte auf die Vorwürfe so gelassen, wie es seiner Art entsprach. Ins Getümmel feuilletonistischen Schlachtengelärms wollte er sich nicht einmischen, verteidigte sich aber in einem Spiegel-Interview. Wahrheit, sagte er, sei eben etwas anderes als die bloße Summe von Fakten. Und Literatur, auch wenn sie auf autobiographischem Material beruht, ist eine andere Textgattung als eine Aktennotiz.

Hermlin, am 13. April 1915 als Rudolf Leder in Chemnitz geboren, war schon zu DDR-Zeiten nicht der Typus des großen öffentlichen Redners, sondern machte seinen Einfluß lieber hinter den Kulissen geltend – als Freund Erich Honeckers, zu dem er einen direkten Draht hatte. Der öffentliche Protest – wie nach der Biermann-Ausbürgerung – blieb bei ihm eher die Ausnahme, doch im Hintergrund betätigte er sich als zuverlässiger Mentor der jungen, die realsozialistischen Schablonen sprengende Literatur und verteidigte, wenn es darauf ankam, auch in Bedrängnis geratene Autoren wie Reiner Kunze.

Hermlin war ein überzeugter Kommunist in der Gestalt eines Aristokraten, der den proletarischen Arbeiter- und Bauernstaat mit der bürgerlichen Tradition versöhnte. Die Bewahrung des „Erbes“ war für ihn nicht nur ein Planerfüllungsauftrag zur Anhäufung kultureller Ressourcen, sondern ein selbstverständliches Humanum: Literatur als Überlebensmittel. Die engen Grenzen, in die der Kommunismus sich ideologisch und politisch einmauerte, die überwand Hermlin in seinem Engagement für die Literatur. Als Übersetzer und Nachdichter holte er die Welt in die kleine DDR hinein, so wie er die Vielfalt in ihrem Inneren unterstützte. Darin, in seiner Funktion als Mentor und Mittler, liegt die Bedeutung Hermlins, wohl stärker noch als in seinem literarischen Schaffen.

So wie es seinem Stil entsprach, bevorzugte er auch als Schriftsteller vornehme Diskretion. Sein Werk wird von Erzählungen und von Lyrik beherrscht. Nie drängte es ihn zur großen Form, zum Roman. Als eine „Ästhetik des versteckten Zeigens, der verschwiegenen Mitteilung“ beschrieb der Schriftsteller Reinhard Lettau Hermlins 1979 erschienenes Spät- und Hauptwerk „Abendlicht“ – ein schmales Buch mit autobiographischen Zügen. Das „Ich“, das dort zum Kommunismus und zum antifaschistischen Widerstand findet, wurde von vielen Lesern kurzerhand mit dem Autor Hermlin verwechselt.

So praktizierte es auch Karl Corino, als er die Ergebnisse detaillierter Aktenstudien ohne großes Federlesen mit den Aussagen im „Abendlicht“ verglich, ein Verfahren, das mit Literaturkritik nichts zu tun hat. Was Lettau als „verstecktes Zeichen“ gerühmt hatte, erschien nun als bewußte Irreführung der Leser – und Literatur als Lügengebilde. Sicher kann man Hermlin den Vorwurf machen, daß er erst jetzt, in Reaktion auf Corino, das alte Mißverständnis ausräumte und öffentlich deutlich machte, daß das „Ich“ in „Abendlicht“ zwar mit Zügen des Autors ausgestattet, aber nicht mit ihm identisch sei. Doch andererseits sollte man einen Autor nicht für die Dummheit seiner Leser verantwortlich machen. Jörg Magenau