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Statt Wut nur viele Fragezeichen

aus Erfurt BARBARA BOLLWAHN DE PAEZ CASANOVA

Zweimal zählt die schwarz gekleidete Frau die riesigen Kerzen unter dem weißen Kreuz auf den Stufen des Doms. Es ändert nichts: Es sind und bleiben 16 Kerzen. Die Erfurterin hat gehofft, dass beim offiziellen Trauerakt auf dem Domplatz neben den erschossenen zwölf Lehrerinnen und Lehrern, dem Schüler und der Schülerin, der Sekretärin und dem Polizisten, mehr der Eltern des Täters gedacht wird.

Dabei gibt es eine 17. Kerze für den 17. Toten. Sie ist nur schwer zu sehen von hinten. Weil sie kleiner ist als die anderen und weil sie einige Stufen tiefer steht. Deshalb ist die Frau enttäuscht. „Es gibt kein fremdes Leid“, sagt sie. „Ich habe Hochachtung vor den Eltern. Sie haben sich mit ihrem offenen Brief sehr loyal verhalten.“ „Uns tut es unendlich Leid“, hatte die Familie Steinhäuser geschrieben, bis jetzt hätten sie nur an die Opfer und nicht an ihren Sohn gedacht. Die schwarz gekleidete Frau tupft sich mit einem Taschentuch die Augen ab. Wie viele der fast hunderttausend Trauernden hätte sie sich gewünscht, dass die Landesregierung die Angehörigen des Amokläufers Robert Steinhäuser offiziell eingeladen hätte. Aber die Staatskanzlei hat davon abgesehen. „Mit Blick auf Trauer und Schmerz der Angehörigen“, wie es hieß. Und aus Angst vor unvorhersehbaren Reaktionen. Es sind die Bischöfe, die die Familie des Täters in ihre Gebete einschließen.

Nicht nur einfache Erklärungen

Die Polizei hat vorsichtshalber die höchste Sicherheitsstufe ausgerufen. Der Luftraum über dem Domplatz ist gesperrt, das Sondereinsatzkommando ist auf ein mögliches Attentat vorbereitet. Doch viele der Erfurter und der von außerhalb Angereisten haben andere Sorgen. Sie wollen reden. Über das Unfassbare. Über das „Warum?“ der Tat. Über die Ursachen und Hintergründe. Über die Gesellschaft. Und über sich selbst. Ein Satz fällt häufig auf dem Domplatz: „Was kann jeder Einzelne tun?“ Die Trauernden wollen sich nicht abfinden mit einfachen Erklärungen. Nein, allein Gewaltvideos, Heavy-Metal-Musik und Schützenvereine erklären für sie nicht, was Robert Steinhäuser getan hat. Vor wenigen Tagen hat jemand auf einen Zettel im Dom geschrieben. „Sind wir nicht alle ein bisschen schuld?“

Nach einer Stunde Nieselregen und Trauerreden verlassen viele den Platz. Es sind vor allem Jugendliche. Ein Mann spricht drei von ihnen an. Er will wissen, warum sie nicht länger bleiben. „Das waren zu viele offizielle Politikerreden“, sagt einer von ihnen. „Die wirklich Betroffenen hätten reden sollen.“ Dass eine Schülerin des Gymnasiums gesprochen habe, sei gut gewesen. Aber zu wenig. Der Erwachsene, der sie angesprochen hat, ist Hochschullehrer für Gartenbau in Erfurt. Er kann die Jugendlichen verstehen. Die Ansprachen findet er „angemessen“. Seine Hoffnung, dass jetzt „wirklich nachgedacht wird“, hält sich in Grenzen: „Im Herzen hoffe ich stark, aber vom Verstand her bin ich eher skeptisch.“ In der Gesellschaft werde zu wenig hingeguckt, wahrgenommen und gemacht. Auch er hätte sich gewünscht, dass stärker der Eltern des Täters gedacht wird.

Das Eiscafé „Venezia“ am Domplatz ist voll. Draußen beim ökumenischen Gottesdienst werden die Namen der 16 Opfer verlesen. Der Bischof fragt, ob es eine „Zumutung“ sei, dass am Tag der Trauer der Alltag allmählich einkehrt. Die üppigen Eisbecher und Milchshakes im „Venezia“ trügen. Von Alltag keine Spur. An einem Tisch sitzt eine Gruppe von 17- und 18-jährigen Jungen und Mädchen aus einem Gymnasium in Bleicherode. Eine Stunde auf dem Domplatz hat ihnen gereicht. Jetzt wollen sie reden. Miteinander und übereinander. „Wir brauchen mehr Vertrauen an den Schulen“, sagt eine 17-Jährige. „Wenn ich Probleme habe, würde ich nicht zu meinen Lehrern gehen.“ Eine andere sagt: „Wenn nicht diese Sache gewesen wäre, hätten sich unsere Lehrer nie zu uns an den Tisch gesetzt.“ Aber sie kritisieren sich auch selbst: „Ich nehme mir vor, keine Schüler mehr auszugrenzen“, sagt eine. „Wir sind alt genug, über Markenklamotten oder bestimmte Musik hinwegzusehen.“ Und: „Wir müssen mehr mit den Lehrern kommunizieren.“

Immer wieder das „Warum?“

In den ersten Tagen nach der Tat waren die Menschen in der Landeshauptstadt sprachlos und wie gelähmt. Eine Woche nach der Tat ist Erfurt noch lange nicht zur Tagesordnung übergegangen. Aber langsam kehrt eine gewisse Normalität zurück. Zeitungsverkäufer verweisen nicht mehr morgens um zehn an Kioske in Bayern oder Hessen. Es sind nicht mehr nur Blumengeschäfte, die Umsätze machen. Tag für Tag füllen sich die Cafés wieder. Und: Die Menschen haben ihre Sprache wiedergefunden.

Sie versuchen, das Unfassbare in Worte zu fassen. Mit den Bergen der Blumen vor dem Gymnasium, dem Rathaus und dem Altar im Dom wächst die Zahl der Zettel und Briefe, die zwischen den Blumen stecken und nach dem „Warum?“ fragen. „Warum mussten unschuldige Menschen sterben, bis sich was in diesem Scheißstaat ändert?“ „Wie viel Verbitterung, Demütigung und Wut müssen in einem Menschen stecken, der zum vielfachen Mörder wird?“ „Was ging in dieser Person nur vor, dass er so einen Amoklauf umsetzen kann?“

Ein Transparent neben dem Eingang des Gutenberg-Gymnasiums quittieren viele mit Kopfnicken. Darauf steht: „Die Kinder widerspiegeln, wie sie von den Eltern und der Gesellschaft geformt werden.“ Viele der Trauernden zählen sich selbst zu den Mitverantwortlichen. „Sind wir nicht auch ein wenig daran schuld?“, wird auf einem Schild gefragt.

Die Person von Robert Steinhäuser spielt bei der Suche nach dem „Warum?“ nur eine untergeordnete Rolle. Seine Probleme stehen im Vordergrund. Auf den Zetteln und Schildern steht fast nie sein Name. Wird er genannt, dann als „Er“ oder „Psychopath“. Nur auf einem Zettel wird gefragt „Robert S. – Wieso hast du das getan?“ Selten sind die Äußerungen wütend. Vor dem Rathaus ragt aus den Blumen ein Zettel mit einem aus der Zeitung ausgeschnittenen Foto des Täters. „Mörder, warum hast du das getan?“ Vor dem Altar im Dom steht: „Ich hasse dich dafür, dass du Menschen getötet hast, darunter war ein sehr guter Freund von mir.“ – „Ist Hass ein Weg?“, hat jemand dazugeschrieben.

Bestimmend sind in Erfurt nicht die Anklagen. Sondern die Fragezeichen. Was waren die Probleme des Amokläufers? Wie kann es sein, dass er zu seiner Tat fähig war? Wie wichtig sind Zeugnisse? Warum unterteilt die Gesellschaft in Starke und Schwache? Kann man sich mit der Einhaltung von Verordnungen aus der Verantwortung ziehen?

Auch die Briefe, die Angehörige von Opfern an einem Seiteneingang des Gutenberg-Gymnasiums niedergelegt haben, sind keine Angriffe gegen den Täter. Ein Sohn an seinen Vater: „Du warst Vater, Freund, einfach der beste Mensch der Welt. Du wurdest mir genommen, bevor ich dir danke sagen konnte.“ Eine Frau an ihren Mann: „Wir waren immer füreinander da. Nur diesmal konnte ich dir nicht helfen. Warum nicht??“ Eine Tochter an ihren „lieben Vati“: „Warum hat er dir keine Chance gelassen? Warum muss immer erst etwas passieren, damit wir endlich aufwachen?“

Eine diffuse DDR-Sehnsucht

In diesen Tagen, in der die Erfurter ganz langsam ihre Sprache wiederfinden und nach den Ursachen der nach wie vor unfassbaren Tat suchen, da taucht auch eine diffuse Sehnsucht auf. Nach dem Bildungssystem im Osten. „In der Schule der untergegangenen DDR-Gesellschaft gab es die Anweisung, nicht versetzte Schüler besonders zu betreuen. In manchen Fällen wurden sie sogar durch Lehrer nach Hause begleitet“, heißt es in einem Leserbrief in der Thüringischen Landeszeitung. Von einer „Gesellschaft der kapitalistischen Moderne“ und einer „erfolgsorientierten Spaßgesellschaft, in der nun der Spaß auf der Strecke zu bleiben scheint“, ist in einem anderen Leserbrief die Rede.

Die DDR will sicher kaum jemand wiederhaben in Erfurt. Doch hier und da macht ein „So etwas wäre früher nicht möglich gewesen“ die Runde. Wenn damals geschossen wurde, sagt ein Taxifahrer, dann in der „Gesellschaft für Sport und Technik.“ Oder an der Mauer. Aber das sagt er nicht.

Unter der Krämerbrücke, einem beliebten Treffpunkt von Punks, machen vor dem Ende der Trauerfeierlichkeiten die ersten Bierflaschen die Runde. Sie sind sauer. „Viele Schulen sind auf Anordnung hergekommen und waren ohne Anteilnahme“, schimpft einer. Ein anderer kann es nicht fassen, dass er zu den Blumen auf den Domstufen keine Rose für seinen erschossenen Freund ablegen durfte. Er sagt: „Die Fernsehbilder müssen stimmen.“

Die Punks haben Angst, dass ihre Stadt so schnell aus den Nachrichten verschwinden wird, wie sie in die Nachrichten gekommen ist. Und dass all die aufgeworfenen Fragen dann unbeantwortet bleiben.

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