Start der Filmfestspiele in Venedig: Nur ein zarter Tritt
Der Mut zum Außergewöhnlichen fehlt: Am Mittwoch eröffnen die 71. Filmfestspiele von Venedig mit der Tragikomödie „Birdman“.
Knapp drei Jahre sind vergangen, seit Alberto Barbera die Leitung der Mostra Internazionale d’Arte Cinematografica übernommen hat. Sein Vorgänger, Marco Müller, führte das Filmfestival acht Jahre lang auf eine Weise, der ich nachtrauere: Müllers Mostra war ein ausgelassenes Spektakel, da sie sich mit Freude auf ältere und jüngere Genre-Filme stürzte, zugleich umarmte sie die sperrigeren Spielarten des Kinos, etwa wenn ein Film von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet im Wettbewerb lief oder eine mehrstündige Schwarz-Weiß-Arbeit des philippinischen Regisseurs Lav Diaz wie ein Monolith im Programm aufragte.
Tempi passati: Lav Diaz’ jüngster Film „Mula sa kung ano ang noon“ („From What Is Before“) lief Anfang des Monats im Wettbewerb von Locarno und erhielt dort den Goldenen Leoparden. Einen zweiten wichtigen Preis verlieh die Jury an „Cavalo dinheiro“ von dem portugiesischen Autorenfilmer Pedro Costa.
Beides klare Zeichen dafür, dass dem Leiter des Festivals von Locarno, Carlo Chatrian, viel an einer cinephilen Ausrichtung liegt, und er auch den Mut hat, diese durchzusetzen. Ist ein Teil von Müllers Erbe ins Tessin ausgewandert, so liegt ein anderer brach. Die aufwendig kuratierten, umfassenden Retrospektiven, die zur Mostra gehörten, sind einem unstrukturierten Klassiker-Programm gewichen.
Wo einst Reihen zu Spaghetti-Western, zu italienischen Sandalenfilmen oder zu sowjetischen Propaganda-Musicals großartige Einblicke in die abgelegenen, unreinen Bereiche der Filmgeschichte gewährten, gibt es heute Klassiker, die vor allem eines gemeinsam haben: Sie wurden gerade neu und sorgfältig restauriert und kommen demnächst als DVD- und Blue-ray-Editionen auf den Markt. In diesem Jahr steht zum Beispiel Marco Bellocchios „La Cina é vicina“, eine Komödie der Sitten aus dem Jahr 1967, eher unvermittelt neben Allan Dwans Mantel-und-Degen-Film „The Iron Mask“ aus dem Jahr 1929.
Bewährtes bevorzugt
Beim Studium der Programmankündigungen gewinnt man den Eindruck, Alberto Barbera setze auf Bewährtes. Im Wettbewerb laufen 20 Filme von verdienstreichen Regisseuren wie Fatih Akin, Benoît Jacquot, David Gordon Green oder Abel Ferrara, eine Regisseurin ist auch dabei: Rakhshan Bani-Etemad aus Iran zeigt „Ghesseha“ („Tales“). Der Eröffnungsfilm, „Birdman“ von Alejandro González Iñarritu, ist eine Tragikomödie über einen in die Jahre gekommenen Schauspieler, der einst einen Superhelden verkörperte und nun als Regisseur am Broadway einen Neuanfang versucht, ein selbstreflexiver Stoff, der dem Showbusiness zart auf die Füße tritt.
Wenig Außergewöhnliches deutet sich an. Im Wettbewerb läuft mit Joshua Oppenheimers „The Look of Silence“ ein Dokumentarfilm, der US-amerikanische Regisseur hat 2012 mit „The Act of Killing“ viele Diskussionen ausgelöst, da der Film an die Verfolgung und Ermordung von Kommunisten und vermeintlichen Kommunisten in Indonesien erinnerte und dabei vor allem die Perspektive der Täter wiedergab, ohne doch mit ihnen gemeinsame Sache zu machen. „The Look of Silence“ ist nun als das komplementäre Gegenstück dazu angekündigt.
Für Lokalpatrioten aus Berlin-Kreuzberg könnte es eine weitere Überraschung geben, weil Kaan Müjdeci, Mitinhaber des Voo Stores auf der Oranienstraße, mit seinem Langfilmdebüt „Sivas“ im Wettbewerb vertreten ist. Die türkisch-deutsche Koproduktion spielt in Anatolien, und die Inhaltsangabe liest sich wie die toughe Version von „Lassie“: Ein Junge nimmt sich eines verletzten Kampfhundes an.
Mit 105 Jahren außer Konkurrenz
Die Filme, die außer Konkurrenz laufen, erhärten den Eindruck einer soliden Auswahl. Neben anderen sind Ann Hui, Joe Dante, Peter Bogdanovich und Im Kwon-taek mit neuen Filmen vertreten, außerdem läuft die HBO-Miniserie „Olive Kitteridge“ von Lisa Cholodenko. Und die lange Fassung von Lars von Triers „Nymphomaniac Vol. 2“ erlebt endlich ihre Premiere.
Nicht zu vergessen: Der große portugiesische Regisseur Manoel de Oliveira hat einen Kurzfilm gedreht, „O Velho do Restelo“ („The Old Man of Belém“). Als ich bei der Produktionsfirma O Som e a Fúria anfrage, ob ich einen Interviewtermin bekommen könne, erfahre ich, dass Manoel de Oliveira leider nicht nach Venedig kommen wird, weil er die Beschwerlichkeiten der Reise nicht mehr auf sich nehmen kann. Er ist 105 Jahre alt.
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