Starorganist spielt vor Altenheimen: Kleine Fluchten in Spandau
US-Starorganist Cameron Carpenter gab Goodwill-Konzerte vor Berliner Altenheimen. Insgesamt spielte der Musiker in rund 30 Seniorensitzen.
Am Donnerstagvormittag summt vor dem Caroline-Bertheau-Haus des barrierefreien Seniorenzentrums am evangelischen Johannesstift in Berlin-Spandau ein Generator. Von dem Generator führen Kabel zu einem danebenstehenden Lkw, auf den ein Kran eine digitale, dreimanualige Kirchenorgel gehievt hat. Um das Fahrzeug herum wieseln ein paar Dutzend Menschen. Manche stellen Kameras auf, filmen und fotografieren. Andere ziehen sich orangene Jacken mit dem Signet der „Bürgerstiftung Spandau“ über, die den Auftritt hier mitorganisiert hat. Sie fragen Anwesende, die sich etwas mit notieren: „Sind Sie vom ZDF?“
Das Haus hat drei Stockwerke, auf deren Balkons ältere Damen und Herren Platz genommen und sich Decken über die Beine gelegt haben. Ein einziger Mann trägt keine Atemschutzmaske, als er sich dem Lkw nähert. Bei seinen Auftritten ist er sonst mit glitzernden Showoutfits und überkandidelten Frisuren angetan, heute aber begnügt er sich mit einer locker sitzenden schwarzen Hose zum schwarzen Pullover. Es handelt sich um den in Berlin lebenden US-Starorganisten Cameron Carpenter.
Der heute 39-Jährige wuchs in Pennsylvania auf, wo er einen guten Teil seiner Kindheit in der Werkstatt seines Vaters, eines Ofenbauers, verbrachte, der dort mit seinen Mitarbeitern auf Metall hämmerte, während sein Sohn Orgel spielte. Für Carpenter eine prägende Erfahrung.
Die Orgel ist bei ihm ein ganzer Mensch
Nun stellt er seinen Rucksack ab, zieht die Sportschuhe aus und seine Orgelschuhe an, klettert auf die Ladefläche des Lkw und beginnt mit seiner temperamentvollen Interpretation von Bachs „Goldberg-Variationen“. Manche der SeniorInnen schauen so erstaunt auf das Geschehen herunter, als wäre gerade ein Ufo gelandet. Sie haben guten Grund dazu. Denn Carpenter kann, auch wenn es abgegriffen klingt, zaubern. Die Orgel ist bei ihm ein ganzer Mensch. Also einer, der sowohl überschäumende Freude erlebt als auch mit kurzen Aufmerksamkeitsspannen kämpft und der das Glück in der Depression ebenso gut kennt wie die Flucht in die Arbeit und den Jubel über die endlosen Möglichkeiten der Musik.
Während Carpenter spielt, ist er nur von hinten zu sehen. Doch schon seine Rückenansicht erzählt viel. Die Schultern wiegen sich nach rechts und nach links. Carpenter bewegt sich wie ein verliebtes Schiff, das kein Seegang ins Wasser drückt, sondern das selbst aus Hingabe mal steuerbords, mal backbords sich dem Element zuneigt. Die Spitzen und Hacken von Camerons Schuhen sprinten währenddessen in Hochgeschwindigkeit über die Pedale. Unbeeindruckt davon nur der Generator, welcher einfach immer weitersummt und durchgehend Carpenters Tonarten ignoriert.
Nach einer halben Stunde dreht sich der Organist um, wirft seinem Publikum eine Kusshand zu und macht sich dann auf den Weg zu dem nur ein paar Schritte entfernt gelegenen Kurt-Scharf-Haus. Dort gibt es keine Balkone, dafür liegen Kissen auf den Fensterbänken. Aus den geöffneten Fenstern sind PflegerInnen zu hören, die mit den BewohnerInnen des Hauses verhandeln. Von dem Stuhl, auf dem Letztere noch sitzen, bis zum Fenster mögen es nur ein paar Meter sein. Doch schon diese kurze Strecke zu bewältigen stellt für manche eine körperliche Herausforderung dar.
Der Lkw ist angekommen, Carpenter trifft ein und legt los. Manche, die es in den nächsten Minuten zu einem Fenster schaffen, legen beide Hände an den Kopf und haben den Mund geöffnet, als würden sie Edvard Munchs berühmtes Gemälde nachstellen. Zum Schluss wirft Carpenter wieder eine Kusshand und wechselt erneut die Schuhe. In den nächsten Tagen wird er vor weiteren Altenheimen in ganz Berlin 30 Konzerte geben, das nächste in Reinickendorf.
Auf dem Rückweg lautet eine der Schlagzeilen auf den Infoscreens in der U-Bahn: „Ausbruch in Altenwohnheimanlage“. Es geht um eine andere Stadt, und auf den ersten Blick liest es sich so, als hätten dort ein paar SeniorInnen einen Fluchttunnel gegraben und durchquert, um ihre Freiheit wiederzuerlangen. Aber dann wird natürlich klar, dass die Alten da geblieben sind, wo sie waren, und stattdessen auch dort das Virus angekommen ist.
Cameron Carpenter hat es immerhin geschafft, sein Publikum in Spandau mit Musik ein bisschen ausbrechen zu lassen.
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