■ Standbild: Wuppdität der Plaste
„Das kleine Fernsehspiel: Aurora“, Mo., 0.35 Uhr, ZDF
Gerne arbeiten sich Künstler an den Unbillen des Alltags ab, um ihr eigenes nutzloses Tun zu vertuschen. Marcel Duchamp stellte ein Klobecken ins Museum, und Andy Warhol malte Suppendosen. Sybille Hofter war das alles viel zu unpräzise: Kunst lenkt im Grunde nur von der Wirklichkeit ab, so wie das Bild von einem Stuhl der Praxis viel weniger nützt als ein ordentliches Möbel. Darüber hatte schon Platon philosophiert – Grund genug für ein kleines Fernsehspiel.
Der Stuhl, mit dem Hofter sich in ihrem Filmessay beschäftigt, heißt „Aurora“, Morgenröte, und ist ein rein maschinell erstelltes Monstrum aus Vollplastik. 100 Stück davon werden in der Stunde produziert, seit 1983 waren es immerhin 100 Millionen – obwohl „der Platz für die Beine fehlt“, wie man gleich zu Anfang erfährt. Klaffen da nicht schon Weltbilder auseinander: Hier der Mensch mit seinen ergonomischen Bedürfnissen und dort die häßliche Fratze einer Massenware in Weiß, der „Ursprungsnichtfarbe“ schlechthin?
Mit solcherlei Wissen um die Schäbigkeit zeitgenössischen Designs entwickelt sich die Dokumentation zu einer hartnäckigen Collage aus Industriefilm und Wackelvideo-Ästhetik. Immer wieder marschieren militärisch aufgereiht die tristen Monoblockstühle, dürfen Spezialisten ihre Programme am Computer auswickeln und Wissenschaftler Bedenken tragen ob soviel Terror der Statik. Der Physiker Bernd Upnmoor rotiert mit den Armen, um das Dilemma elektromagnetischer Schwingungen zu zeigen. Denn die Moleküle haben Löcher, wo unsereins sich einfach draufsetzt, weil er das erkenntnistheoretische Problem der Wuppdität der Plaste für einen Stuhl hält.
Damit das Publikum nicht einschläft – schließlich ist es ein Uhr nachts – gibt es noch eine Arie aus einer Oper von E.T.A. Hoffmann, und wieder tanzen die Stühle montagetechnisch aufgeweckt. Manchmal denkt Sibylle Hofter auch erstaunt die Gedanken eines der befragten Professoren zu Ende, während Werktätige meist nur im Bild erscheinen, um das Gestühl hin und her zu tragen. Das sieht in München oder Hongkong ungefähr gleich aus. Aber wer hätte bei einer Förderung durch das Kleine Fernsehspiel des ZDF auf eine Reise nach Fernost verzichtet? Dort sind die Plastikstühle gelb, orange oder schwarz, und die Asiaten, die drauf sitzen, essen mit Stäbchen. Harald Fricke
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