Stahlbranche schlägt Alarm: Umbau der Industrie in Gefahr
Nach dem Haushaltsurteil des Verfassungsgerichts ist vieles offen. Die Stahlbranche fordert von der Regierung Ansagen zum Umbau der Wirtschaft.
„Die Politik ist aufgefordert, schnell und verlässlich Antworten zu finden, wie die Transformation der Industrie verlässlich finanziert werden kann“, sagte Osburg, der auch Chef des größten deutschen Stahlkonzerns ThyssenKrupp Steel Europe ist. Ohne eine Anschubfinanzierung für Unternehmen drohe der Verlust industrieller Substanz, warnte er. Gemeinsam mit dem Bundesverband der Erneuerbaren Energien (BEE) fordert er von der Bundesregierung die Einberufung eines „Transformationsgipfels“, um verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen.
In der vergangenen Woche hat das Bundesverfassungsgericht das Verschieben von Kreditermächtigungen für Coronahilfen in Höhe von 60 Milliarden in den Klima- und Transformationsfonds (KTF) untersagt. Das Urteil hat weitreichende Auswirkungen, etwa auf weitere Finanzierungstöpfe und die Bundeshaushalte 2023 und 2024 – welche genau, ist noch unklar. Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) hat eine Haushaltssperre verhängt. Die Stahlbranche und der BEE fürchten, dass infolge des Urteils die Finanzierung des klimagerechten Umbaus der Industrie insgesamt ins Wanken gerät. Die Stahlindustrie ist ein wichtiger Faktor auf diesem Weg. Ein Drittel aller industriellen CO2-Emmissionen stammen laut Osburg aus der Stahlproduktion.
Über den KTF sollten ursprünglich bis 2027 rund 212 Milliarden Euro für den Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft zur Verfügung stehen. Durch das Urteil ist mehr als ein Viertel davon weggebrochen. Es sei völlig unklar, welche Projekte für die Industrie bestand haben und welche nicht, kritisierte Osburg. Bewilligte Förderungen sind nicht gefährdet. Das gilt aber nur für ein Projekt von ThyssenKrupp und eines von der Salzgitter AG.
Umstieg von Kohle auf Strom
Die Branche fürchtet, dass unter anderem die sogenannten Klimaverträge zur Disposition stehen, die bislang über den KTF finanziert werden sollten. Bei diesen Verträgen unterstützt der Staat unter bestimmten Voraussetzungen Investitionen in klimafreundliche Technologien, bei Erfolg fließt Geld zurück. Bei der konventionellen Stahlproduktion gehe es darum, in den kommenden Jahren den Umstieg von Kohle als Energieträger auf Strom zu bewältigen, sagte Osburg. „Wenn das nicht finanziert wird, hat das Folgen für die Wettbewerbsfähigkeit und die Klimaziele.“ Die Unternehmen müssten jetzt Investitionsentscheidungen treffen. Dazu bräuchten sie schnell Planungssicherheit.
In der Stahlbranche arbeiten nach Angaben der Wirtschaftsvereinigung direkt 80.000 Beschäftigte. Weil viele Produkte aus Stahl hergestellt werden, biete die Branche den Angaben zufolge indirekt 4 Millionen Jobs. Zwei Drittel aller Exporte stehen in enger Verbindung mit Stahl, sagte Osburg. „Stahl ist ein zentrales Produkt für die Transformation insgesamt“, betonte er.
Das sieht auch BEE-Präsidentin Simone Peter so. „Die Erneuerbaren-Industrie in Deutschland braucht zentrale Grundstoffe wie Stahl und die Industrie eine bezahlbare und zuverlässige Energieversorgung“, sagte sie. Windräder etwa bestehen aus Stahl, auch Rohre für den Wasserstofftransport. Bei dem von Peter und Osburg geforderten Transformationsgipfel soll es darum gehen, die verlorene Planungs- und Investitionssicherheit für die Unternehmen wiederherzustellen. An dem Gipfel sollen Vertreter:innen von Unternehmen, Gewerkschaften, Bund und Ländern teilnehmen.
Die Stahlhersteller treibt die Furcht um, dass die Bundesregierung nun die Mittel zur Dämpfung der hohen Stromkosten in der Industrie streicht, die sie nach langem Ringen beschlossen hat. Schon vor dem Urteil des Verfassungsgerichts war die Lage für zahlreiche Unternehmen schwierig. Aufgrund hoher Energiekosten ist die Produktion in Elektrostahlwerken, die Schrott verarbeiten, massiv eingebrochen. Im Oktober 2023 wurde nach Angaben des Branchenverbands fast ein Drittel weniger Stahl in diesen Werken produziert als im Oktober 2020.
Die Bundesregierung ist derzeit nicht dazu in der Lage, den Sorgen der Industrie etwas entgegenzusetzen. Unter Federführung des Finanzministeriums wertet sie das Urteil weiterhin aus. Auch die Aufstellung eines neuen Finanzplans für den KTF dauert an. „Das erfordert angesichts der komplexen Aufgabe Sorgfalt und etwas Zeit“, sagte eine Sprecherin des Bundeswirtschaftsministeriums. Zu „spezifischen Fragen und Programmen“ könnten aktuell keine Angaben gemacht werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Bundestag bewilligt Rüstungsprojekte
Fürs Militär ist Kohle da
Kürzungen im Berliner Haushalt
Kultur vor dem Aus
Grüne über das Gezerre um Paragraf 218
„Absolut unüblich und respektlos“
BSW-Chefin im ZDF
Wagenknecht räumt Irrtum vor russischem Angriff ein
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren