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Stadtmitte

■ Beitrag zum Personenkult

Beitrag zum Personenkult

Lenin schlendert über den Leninplatz. Den künftigen »Platz der Vereinten Nationen«. Da kichert selbst Lenin. Als ob die Bauweise dieses Platzes Menschen zueinander bringen würde... Er versucht das Denkmal nicht zu sehen. Es macht keinen Spaß, täglich an die eigenen Sünden erinnert zu werden. Deshalb stimmte er als Mitglied der Bezirksverordnetenversammlung gegen das Denkmal. Manche Trottel begreifen rein gar nichts. Zwei Schritte vorwärts, einen zurück — ein altes Prinzip von ihm. Es können ja auch drei sein. Oder dreißig. Und wo vorn und hinten ist, darüber kann man streiten. Vielmehr, darüber zu streiten ist borniert, denn das sollte man flexibel sehen. Und das ewige »man« sollte er sich auch abgewöhnen, damit er mit den Frauen keine Probleme bekommt. Wo er doch jeder Köchin schon früher das Regieren eines Staates wünschte. Na ja, natürlich hätte er streng darauf geachtet, wer unter diesen Umständen Köchin wird. Vorwärts, zurück, alles relativ. Hauptsache, in Bewegung sein. In die Zukunft blicken. Und nicht auf sein Denkmal. Lenin schaut sich nun doch an. Das Original trägt Sonnenbrille, italienisches Design. Sie sitzt exakt auf dem sonnengebräunten Gesicht, (à la Kanarische Inseln). Internationalisten waren sie schon immer. Auch in seinem neuen Job muß er multikulturell denken. Vermögensanlageberater, sehr lukrativ. Ein wenig riskant, da er sich auf Krisenregionen spezialisiert hat. Übrigens heißt er nicht mehr Lenin. Ninel nennt er sich, einfach den Namen rückwärts, die einfachsten Dinge merken die Menschen nie. Deshalb steht er vor seinem Denkmal, nimmt die Brille einen Moment ab. Ohne Scheu, daß ihn einer erkennt. Einmal verkleidete er sich als Skinhead und versuchte, andere zum Demolieren seines Denkmals anzustacheln. Es kam kein rechter Haß auf. Sie wollen den Frust an seinem Regime einfach nicht an seinem Denkmal ausleben. Das ängstigt Ninel etwas. Wenn die Menschen zu vernünftig würden, gäbe es weder blutige Revolutionen, noch genügend Krisengebiete, um als Anlageberater gewinnbringend zu spekulieren. Oder soll er eine neue politische Karriere wagen? Ninel bedeckt sich wieder mit seiner Brille und schüttelt demonstrativ empört den Kopf über den Riesenstein. So, daß zwei Passanten seinen Zorn wahrnehmen müßten. Denkt Ninel und erinnert sich an all den Spott, den ihn dieser Brocken mit dem viel zu glatten Gesicht einbrachte.

Was schrieb doch der eine Schriftsteller? Lenin und Thälmann und all die anderen Granit-, Beton- und anderen Köpfe der Arbeiterbewegung noch größer bauen. In Lenins Kopf eine Bibliothek, in den Unterleib eine Diskothek. West-Berlin so ideologisch einkreisen, damit die immer zu den Errungenschaften des Realsozialismus aufblicken müssen. Ninel gerät in Erregung. Er weiß, daß das sein Blutdruck nicht verträgt. Schon deshalb muß das Ding weg. Vor allem, daß dieser Schmierfink mit der Diskothek an seine sexuellen Probleme erinnerte, schmerzte ihn. Allles sonst klappte so gut. Politisch wankt er zwischen wertkonservativ und Erneuerer bei der PDS. Von letzterer wendet er sich irgendwann enttäuscht ab. Alles andere ergibt sich. Er hat es geschafft, ein System durchzusetzen, das den Menschen auf Jahrzehnte jede Lust auf eine gerechtere Gesellschaft nimmt. Um den Kapitalismus zu effektivieren, mußte er ihn bekämpfen. Und ein Staat stirbt ab, wie von Marx vorausgesagt. Durch weltweite Kapitalkonzentration geht es den anderen Staaten faktisch genauso. Nur als Garant für die Schulden werden sie noch gebraucht — und als Krisenerzeuger. Ninel lächelt wieder und schreitet von dannen. Ihn und seinesgleichen hält keiner auf. Und schon gar nicht sein Denkmal...

Lutz Rathenow ist Schriftsteller und lebt in Ost-Berlin. In der »Stadtmitte« schreiben Berliner zu aktuellen Problemen der Stadt.

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