■ Stadtmitte: Einträchtige Zwietracht
Bei Virginia Woolf findet sich die Geschichte eines Lokomotivführers. Dieser fährt immer an einem Haus vorüber, vor dem eine Frau steht, die ihm stets freundlich zuwinkt — und er grüßt zurück. Obgleich sich die beiden nur aus der Ferne kennen, stellt sich mit den Jahren eine Vertrautheit her, die wechselseitig ein bestimmtes Bild vom anderen und den Wunsch nach Nähe wachsen läßt. Nachdem der Lokführer seinen Dienst quittiert hat, kommen beide endlich zusammen. Jedoch: Nach kurzer Zeit schon stellt sich Ernüchterung ein und macht sich Enttäuschung breit. Die Vorstellungen vom anderen, die Erwartungen und Sehnsüchte sind mit den Jahren so groß geworden, daß sie in der Nähe nicht erfüllbar sind. Ein Zurück, die Herstellung früherer Ferne ist allerdings auch nicht mehr möglich...
Die Geschichte ist älter, als es die deutsche Teilung wurde. Und dennoch beschreibt sie unbeabsichtigt den gegenwärtigen Zustand der beiden Deutschländer: Die Zuneigung aus der Ferne war größer, als sie jetzt in der Nähe ist; jeder gemeinsame Tag vermehrt nur den Unmut über den anderen.
Woran liegt das? Ist die Einheit gescheitert?
Machtpolitisch jedenfalls nicht — die herrschende Klasse des Westens hat ihre Herrschaft auch im Osten uneingeschränkt etabliert. Gescheitert ist nur der Versuch, die östliche Gesellschaft zu verwestlichen: Die öffentlich erklärte Absicht, binnen kürzester Frist annähernd gleiche Lebensverhältnisse zu schaffen, erwies sich als nicht realisierbar. Das aber lag nicht ausschließlich — wie uns Kohl & Co. noch immer glauben machen wollen — an der SED-Mißwirtschaft, deren Umfang unterschätzt worden sei. Sondern es sind die Folgen eklatanter eigener Fehler, die man öffentlich nicht zugeben will. Die bemerkenswertesten waren wohl die Heiligsprechung des Eigentums in der Formel »Rückgabe vor Entschädigung« und die Anbindung der Treuhand ans Finanzministerium, was zum Prinzip »Ausverkauf vor Umstrukturierung« führte.
Wir befinden uns nach zwei Jahren staatlicher Einheit noch immer in der erschreckenden Situation, daß es kein Transformationskonzept für die neue Bundesrepublik gibt. Der formelle Anschluß von 108.000 Quadratkilometern und 16 Millionen Menschen bedeutet noch keine Idee, mit »Weiter so, Deutschland« ist kein Staat zu machen. Auch die politische Linke in Deutschland, klein, zersplittert, ist bislang die Antwort auf die Frage schuldig geblieben, wie das vereinte Deutschland aussehen soll.
Ein neues Jahr pflegt man mit Verpflichtungen zu beginnen. Die Linke sollte den Anbruch des dritten Einheitsjahres als Aufforderung nehmen, der Ideenlosigkeit der Regierenden endlich eigene Konzeptionen entgegenzusetzen. Denn wie bei Virginia Woolf können wir nicht mehr in die Ferne zurück. André Brie, Vorsitzender der
PDS in Berlin
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