Stadtmitte: Kinder brauchen mehr als Reservate
■ Bei der Verkehrsplanung werden Kinder nicht berücksichtigt, sondern verdrängt
„Keine Angst mehr im Straßenverkehr!“ fordern Kinder und Eltern. 1993 verunglückten 2.415 Kinder im Berliner Straßenverkehr; einundzwanzig Kinder wurden getötet. In diesem Jahr starben schon acht Kinder auf der Straße. Bei jedem neuen Unglück wird bestenfalls über Verkehrsberuhigungsmaßnahmen gesprochen. In der Konsequenz bedeutet dies, da nicht alle Straßen verkehrsberuhigt werden können, daß das maximale Angebot der Verkehrspolitik städtische Kinderreservate sind. Denn der Aktionsradius von Kindern wird spätestens von der ersten nicht verkehrsberuhigten Straße begrenzt.
Es sollte neben allen verkehrspolitischen Problemen nicht übersehen werden, daß die Straße nicht nur Verkehrsraum, sondern auch Lebensraum ist. Die Straße ist gerade als Verkehrsraum auch ein öffentlicher Ort, wo etwas los ist. Und wo etwas los ist, da zieht es Kinder hin. Damit stören Kinder zwei wichtige Funktionen des Straßenraums: der Ort zu sein, wo Güter und Menschen transportiert werden, und Aufenthaltsraum für Erwachsene zu sein. Aufenthaltsräume für Kinder aber werden gesondert angeboten, Spielplätze und Spielstraßen, Kinderfreizeitangebote. Dies sind Kinderschutzzonen oder -reservate. Traut sich ein Kind aus ihnen heraus, bekommt es zu spüren, daß es nicht zur Gemeinschaft der Motorisierten gehört.
Der Verweis auf die Statistik der BRD (alt), daß die Gesamtzahl der verletzten und getöteten Kinder bei Straßenunfällen zurückgegangen ist, geht fehl. Dahinter versteckt sich als simpler Grund, daß Kinder möglichst wenig auf die Straße gelassen werden. Oder Eltern begleiten zunehmend ihre Kinder zu den Orten des Spiels und der Freizeit, wenn sie es finanziell und zeitlich organisieren können.
Deshalb stellt sich die Frage: Wie holen wir die Kinder in die Gesellschaft hinein? Bevor es aber konkrete Antworten bei der Stadtplanung geben kann, bedarf es eines politischen Willens. Um die hiesige Willensbildung zu beschleunigen, könnten Erfahrungen aus Nordrhein-Westfalen hilfreich sein. Dort wurde unter dem Motto „Kinderfreundlichkeit als politische Herausforderung“ ein Prüfverfahren für alle Verwaltungen herausgegeben und in den Kommunen etabliert. Es umfaßt Leitfragen an Stadt- und Verkehrsplanungsvorhaben: Sind die Belange von Jungen und Mädchen berücksichtigt? Ist die bespielbare Stadt Grundlage der Verkehrskonzepte oder die schnell zu durchfahrende Stadt? Werden Kinder als Experten für kindgerechten Stadtraum in Wohnumfeldveränderungen und Straßenumbauten einbezogen? Werden Mädchen bei der Ermittlung ihrer spezifischen Bedürfnisse und Interessen beteiligt? Sind Mädchen und Jungen auf die Begleitung von Erwachsenen angewiesen? Formuliert werden auch konkrete Anforderungen: Breite Gehwege, Überquerungshilfen für Kinder, beispielsweise Sicherheitsstreifen zwischen parkenden Autos und der Fahrbahn, Geschwindigkeitsreduzierungen auf allen Innerortstraßen, ausreichende Grünphasen und vieles mehr. Sensationell ist das alles nicht. Die Sensation läge für Berlin darin, daß man Kinder endlich ernst nimmt und den Katalog umsetzt. Christine Ahrend
(Mitarbeiterin im Verkehrs-
wesenseminar der
Technischen Universität)
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