piwik no script img

StadtgesprächTV-Reporter als Volksheld

Kriegsangst? Südkorea begeistert sich lieber für einen Film über einen Deutschen, der ein Massaker enthüllte

Fabian Kretschmer aus Seoul

Vielleicht wäre Südkoreas Nachkriegsgeschichte anders verlaufen ohne diesen großgewachsenen Mann aus Ratzeburg: Jürgen Hinzpeter lieferte vor 37 Jahren als einziger Fernsehjournalist die Bewegtbilder, die es im Medienzeitalter benötigt, um die Weltöffentlichkeit aufzurütteln.

Der Schlüsselmoment für die südkoreanische Demokratiebewegung wäre ohne ihn möglicherweise untergegangen. Unter Südkoreas Linken wird der Schleswig-Holsteiner für seine Verdienste bis heute als Volksheld geehrt.

Dieser Tage prangt Hinzpeters Name erneut auf Plakaten im ganzen Land. In „Unjeonsa“, zu deutsch „Taxifahrer“, wurde die Geschichte von damals filmisch festgehalten. Schauspieler Thomas Kretschmann spielt darin Jürgen Hinzpeter, der auf eigene Faust vom ARD-Büro in Tokio nach Südkorea aufbricht. Am Flughafen fährt er mit einem Taxifahrer gen Süden.

Mai, 1980: In Gwangju zeichnet sich eine humanitäre Katastrophe ab. Die Stadt wurde vom Militär belagert, der autoritäre Herrscher Chun Doo Hwan hatte kurz zuvor das Kriegsrecht verhängt. Durch die Zensur drangen nur Zeitungsberichte über wilde Aufständische an die Öffentlichkeit. Dabei ging es den Demonstranten um freie Wahlen in ihrem Land – ein Sitzstreik von 600 Studenten, der in wenigen Tagen auf über 200.000 Demonstranten anwuchs.

Das Ausland interessierte sich damals jedoch kaum für dieses kleine Land. Als sich Hinzpeter und sein Fahrer über kleine Dörfer in das abgeriegelte Stadtgebiet von Gwangju schlängelten, erlebten sie eine Tragödie von unvorstellbarem Ausmaß: Militärdiktator Chun ordnete den Schießbefehl an, mehrere hundert Menschen werden massakriert. „Ich habe über Vietnam berichtet und vom Krieg in Kambodscha, aber was ich in Gwangju gesehen habe, war unvergleichlich und bewegt mich noch heute. Junge Leute, Schulkinder und Studenten wurden vorsätzlich in den Kopf geschossen“, sagt er später.

Die 16-mm-Rollen schmuggelte Hinzpeter ins Ausland – als Hochzeitsgeschenk, dass sich die Zollbeamten nicht anzurühren trauten. Die Erstausstrahlung in der Tagesschau löste Entsetzen aus. „Durch Hinzpeters Arbeit haben Leute wie ich erstmals vom Massaker in Gwangju erfahren“, sagt US-Journalist Timothy Shorrock, der seine Kindheit als Missionarssohn in Japan verbrachte.

Das Thema ließ ihn seitdem nicht mehr los: In jahrelanger Recherche in Geheimdienstakten der CIA legte er die passive Komplizenrolle seines Heimatlandes offen. Die USA, die damals 50.000 Soldaten in Südkorea stationiert hatten, ließen den Militärdiktator gewähren.

„Ich hab Wut empfunden, als ich den Film sah“, sagt die 30-jährige Lee Min Ah, die als Kulturschaffende im Sejong Arts Center in Seoul arbeitet: „Vor allem, weil viele Leute denken, dass sie mit der dunklen Vergangenheit unseres Landes nichts mehr zu tun haben wollen.“

Tatsächlich wird das Thema Gwangju noch immer kontrovers diskutiert: Der korrupte Exdiktator Chun Doo Hwan veröffentlichte vor wenigen Monaten seine Biografie, in der er jede Beteiligung an der Niederschlagung von Gwangju abstritt.

Den Gegenbeweis hat Jürgen Hinzpeter auf Zelluloid für die Nachwelt festgehalten. Fast 80 Prozent aller erhaltenen Dokumentaraufnahmen von damals stammen von ihm. 1986 kommt er erneut nach Seoul, filmt Protestmärsche und wird dabei von örtlichen Sicherheitskräften so brutal zusammengeschlagen, dass er vorzeitig in den Ruhestand gehen muss.

Ein Jahr später führte die Protestbewegung zum Rücktritt der Militärregierung und ersten freien Wahlen. Im Abspann des Films „Unjeonsa“, der mit fünf Millionen verkauften Tickets bereits der Sommerhit des Jahres ist, wird der echte Jürgen Hinzpeter eingeblendet, wie er von seinem Taxifahrer von damals erzählt, bei dem er sich vor seinem Tod bedanken möchte. „An dieser Stelle haben alle im Saal geweint“, erinnert sich Lee Min Ah. Hinzpeter sollte seinen Wunsch nicht mehr erleben. Im vergangenen Januar verstarb er 79-jährig in Lübeck. Teile seiner Asche wurden, wie er verfügt hat, in Gwangju verstreut.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen