Stadtgespräch Vera Bessonovaaus St. Petersburg: Ein Anruf vom großen Unbekannten – Telefonbetrug ist in Russland zum gängigen lukrativen Geschäft geworden. Für die Opfer sind die Folgen fatal
Ein Telefonanruf von einer unbekannten Nummer. Rangehen? Besser nicht. Eine 85 Jahre alte Einwohnerin von St. Petersburg macht es trotzdem. Zeugen für das Gespräch gibt es keine. Ihre Nichte informiert die alte Dame erst, als es längst zu spät ist. Da hat sie bereits sämtliche Ersparnisse in Höhe von rund 15.000 Euro von ihrem Konto abgehoben und am späten Abend vor ihrem Wohnhaus einem Mann ausgehändigt. Im Gegenzug hatte der versprochen, das Geld werde ans – Ohren auf! – Schatzamt übergeben und dort erfasst. Nach einem Tag erhalte sie die volle Summe zurück. Geblieben ist ihr nur eine Quittung mit Stempel. Das sollte den dreisten Raub wohl wie eine Amtshandlung aussehen lassen.
Zwei Tage nach dem Vorfall Anfang Oktober ist ihre Nichte immer noch fassungslos. Sie erzählt, dass damit fast ihr gesamtes Erbe futsch sei. Einfach so. Ihre Tante sei von der Sberbank aufgefordert worden, beim Geldabheben mit einem nahen Angehörigen zu erscheinen. Doch anstatt ihre Nichte, mit der sie alle zwei Tage telefoniere, um Hilfe zu bitten, habe die betagte Kontoinhaberin kurzerhand eine Nachbarin mitgenommen. „Meine Tante hatte Angst, ich würde nicht mitspielen“, erzählt die Nichte kopfschüttelnd.
Doch damit nicht genug. Die Tante habe den Betrügern auch noch ihre persönlichen Zugangsdaten für das staatliche Onlineportal Gosuslugi mitgeteilt. Darüber kann so ziemlich alles abgewickelt werden – sogar die Aufnahme eines Kredits. Ob es so weit gekommen sei, wisse sie jedoch nicht, sagt die Nichte.
Was nach komplettem Nonsens klingt, beschreibt den Zustand von Teilen der russischen Gesellschaft prägnanter, als es eine wissenschaftliche Studie vermag. Sich anderen Menschen anvertrauen? Fehlanzeige. Stattdessen Misstrauen, Unsicherheit, vielleicht auch soziale Isolation sowie das Unvermögen, sich selbst gegen solche Leute zu schützen, die keine Hemmungen haben, Schwächen der Angerufenen schamlos auszunutzen.
Die Sberbank beziffert den finanziellen Schaden von Telefonbetrug allein für 2024 auf rund 3 Milliarden Euro. Andere Banken und die russischen Behörden sind mit ihren Einschätzungen zurückhaltender. Aber das ändert nichts daran, dass die alte Dame aus St. Petersburg kein Einzelfall ist. Die Masche hat System.
„Man wird so sehr eingelullt und verängstigt, dass der gesunde Menschenverstand schlichtweg versagt“, sagt die Mitarbeiterin einer St. Petersburger Sozialeinrichtung, die sich um betagte Menschen kümmert. Sie hätten schon mit zahlreichen ähnlich gelagerten Fällen zu tun gehabt. Immerhin habe vor einem Jahr die Anzeige eines ihrer Schützlinge Erfolg gehabt: Die Polizei habe die Betrüger ausfindig gemacht und für die Rückgabe des Geldes an seine rechtmäßige Besitzerin gesorgt.
Auch eine Barista und ihre Kundin in einem kleinen Café, nur ein paar Schritte entfernt von der St. Petersburger Prachtstraße Newskij-Prospekt, haben zum Thema Telefonbetrug sofort Beispiele aus ihrem weiteren Umfeld parat. Alles alte Leute. Aber dieser Eindruck trügt: Anfang des Jahres veröffentlichte die russische Zentralbank Ergebnisse einer Umfrage zum Thema Sicherheit finanzieller Dienstleistungen. Darin heißt es, junge Frauen zwischen 25 und 44 Jahren mit mittlerem Bildungsgrad seien am häufigsten von Betrug betroffen, danach folgen Männer und Frauen in der Altersgruppe bis 64. Ältere Generationen landeten auf Platz drei.
Verlorenes Geld lässt sich womöglich noch verschmerzen, verlorene Freiheit wohl kaum. Derzeit verhandelt ein Militärgericht in St. Petersburg den Fall des 63-jährigen Pjotr Pustowoj. Betrüger hatten ihn im vergangenen November per Whatsapp zu einem Terroranschlag aufgefordert. Pustowoj gestand die Brandstiftung an einem Eisenbahnabschnittsstellwerk, gab aber an, in die Irre geführt worden zu sein. Er habe geglaubt, er sei dem Inlandsgeheimdienst FSB behilflich, „Wanzen zu vernichten“.
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