Stadtentwicklung: Dr. Thiedigs Trick mit dem Dachschaden
Berlin-Mitte, Almstadtstraße: Im unsanierten Teil eines Mietshauses wohnen Reste einer linksalternativen Szene. Dem Eigentümer sind sie im Weg, er will umbauen. Jetzt hat er durchgegriffen und kurzerhand das Dach abtragen lassen.
Es ist kurz nach sieben Uhr am Morgen, die BewohnerInnen der Almstadtstraße 24 in Mitte schlafen noch. Die Temperatur liegt knapp über null, es regnet leicht. Plötzlich wecken metallischer Lärm und Stimmen die Schlafenden. Gelbe Kunststoffröhren werden vom Dach herabgelassen, es rumpelt und poltert, Arbeiter laufen über den Hof. Dann können die BewohnerInnen nur noch entsetzt zusehen, wie das Dach ihres Hauses in einem großen Container verschwindet. Die Aktion ist gut geplant: Bis zur Mittagspause der Bauarbeiter ist vom Dach nicht mehr viel zu sehen. Ein paar Balken stehen noch, der Regen fällt jetzt auf eine Plane, die behelfsmäßig über den Dachstuhl gespannt ist. Anrufe bei der Rechtsanwältin und eine Einstweilige Verfügung vom Gericht nutzen nichts mehr - das Dach ist weg.
Das war am 14. November. Um zu begreifen, wieso das Haus in der Almstadtstraße 24 jetzt ohne Dach im Regen steht, muss man noch ein wenig weiter ausholen: 13 Jahre ist es her, dass der jetzige Eigentümer, Hans-Jürgen Thiedig, das Gebäude von einem jüdischen Vorbesitzer kaufte. Thiedig ist Geschäftsführer der Firma "Dr. Thiedig", ein mittelständischer Hersteller von "Probenahme- und Analysetechnik". Das Haus in der Almstadtstraße will Dr. Thiedig, der sich nach eigenen Angaben für den Denkmalschutz engagiert, sanieren. Ein Großteil der alten MieterInnen zieht mehr oder weniger freiwillig aus. Anschließend lässt Thiedig das Vorderhaus und den ersten Seitenflügel renovieren. Die Fassade erhält einen weinroten Anstrich, am Eingang werden goldene Klingelschilder angebracht. Neue Mieter ziehen ein, denn die Mieten sind gestiegen. Rund 10 Euro netto kassiert Thiedig pro Quadratmeter, nicht ungewöhnlich in einem der hippesten Kieze Europas. Dr. Thiedig würde man eher nicht als hip bezeichnen: Auf seiner Homepage trägt er einen karierten Sakko und Glatze. In seiner Freizeit sammelt er historisches Spielzeug und setzt sich für den Erhalt alter Bäume im Berliner Norden ein, wo sein Eigenheim steht.
Es gibt noch eine andere Geschichte. Sie spielt im Hinterhaus der Almstadtstraße 24 und beginnt Anfang der 90er-Jahre. Der Stadtteil ist marode, die Häuser leer. Junge Linke ziehen ein. Ihre Parole: "Die Häuser denen, die drin wohnen!" Sie bekommen Mietverträge von der Wohnungsbaugesellschaft Mitte. In Eigenregie bauen sie Fenster und Öfen ein. Befreundete Handwerker helfen bei den kniffeligen Installationen. Es gibt eine Gemeinschaftsküche. Bald werden fast jedes Wochenende Partys gefeiert, einige KünstlerInnen ziehen ein, die alternative Szene ist gern zu Gast und sonnt sich auf dem Dach. Es wird diskutiert: über die Umstrukturierung in Mitte und über alternative Energie. Schwarze Schläuche auf dem Dach sollen Warmwasser produzieren, aber die Konstruktion funktioniert nicht. "Alm" wird das Haus liebevoll genannt.
Thiedigs Anwalt Gerhard Wilms wird später vor Gericht von einem "Biotop" sprechen, das sein Mandant als Eigentümer nicht dulden könne. In einem Fax schreibt Thiedig an die taz: "Sämtliche notwendigen Instandsetzungsmaßnahmen [] werden gezielt seit 1995 mit Hilfe der Gerichte verhindert." Keiner der ursprünglichen Mieter wohne mehr im Haus, sie hätten ihre Wohnungen fremden Nutzern überlassen. In der Tat wurden Thiedigs Klagen auf Duldung der Modernisierungsmaßnahmen - insbesondere eines Dachausbaus - von Gerichten abgewiesen. Mitte November hat er eben ohne Erlaubnis angefangen.
Yuliya und Anne-Marie laufen durch die vielen Zimmer der "Alm". Zeigen an die Decken und auf die Böden. Oben: große Wasserflecken, von denen es herabtropft. Unten: Eimer, die das Wasser auffangen sollen. Dazwischen Plastikfolien, die das Wasser in die Eimer leiten sollen. Die müssen nun in regelmäßigen Abständen geleert werden, wenn es regnet. "Im vierten Stock ist ein richtiges Feuchtbiotop entstanden", sagt Anne-Marie, "da kann man nur noch mit Badelatschen rein." Sogar im zweiten Stock breitet sich ein großer Fleck an der Decke aus. "Die Plane über dem Dachboden ist löchrig, außerdem liegen zwei Planen so aufeinander, dass das Wasser direkt hindurchläuft", erklärt sie. Heizen können die BewohnerInnen nur noch in einem Teil des Gebäudes. Sie rücken zusammen, wohnen zu zweit in einem Zimmer, sitzen in der Nähe der wenigen Öfen, die noch funktionieren.
Viele sind fassungslos. "Die wollen, dass das Haus nicht mehr bewohnbar ist und wir ausziehen", vermutet Yuliya. In einem der Zimmer riecht es brandig: Als beim Abriss des Dachs Ziegel in den Schornstein fielen, breitete sich der giftige Qualm im Zimmer aus, vermuten die BewohnerInnen. Laut Schornsteinfeger wurden die Schornsteine damals "trotz erkennbarer Benutzung" abgerissen, der Weiterbetrieb wäre lebensgefährlich. Was passiert, wenn jetzt der Winter noch kälter wird, wissen die BewohnerInnen auch nicht. Einige zucken mit den Achseln. Was sollen sie auch sagen? Immerhin ist es ihr Zuhause, das gerade in Kälte und Nässe versinkt. In ungefähr acht Wochen will Hans-Jürgen Thiedig das Dach wiederaufgebaut haben, das hat er vor Gericht gesagt. Dann sind die kalten Tage fast vorbei und - so sein mutmaßliches Kalkül - die Wohnungen leer.
Eigentlich hätte der Eigentümer das Dach nicht abreißen dürfen, eigentlich müsste er es nach einem Gerichtsurteil unverzüglich wieder in den Ursprungszustand zurückversetzen, eigentlich wurden seine Klagen zur Duldung der Modernisierung abgewiesen. Eigentlich. Bloß scheint Dr. Thiedig sich nicht daran zu halten. Die 10.000 Euro Ordnungsgeld steckt er dabei ganz locker weg. Und seit Mitte letzter Woche wird wieder gebaut. "Wie ein Dach sieht das aber nicht aus", sagt Anne-Marie. Den BewohnerInnen ist der Zutritt zum Dachstuhl verwehrt, was da wirklich entsteht, können sie nur vermuten.
Dann kommt Regina ins Zimmer. Schon auf der Treppe hört man sie rufen: "Its raining, es regnet!" Alle müssen los, Eimer auswechseln.
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