Stadt des Bundesverfassungsgerichts: Zweites deutsches Machtzentrum
Regional spielt Stuttgart die erste Geige. Dafür ist die brave Beamtenstadt Karlsruhe bundespolitisch höchst relevant – als Ort der Rechtsjustiz.
Gut 500 Kilometer sind Berlin und Karlsruhe entfernt. Die Distanz ist Programm. Regierungsmitglieder und VerfassungsrichterInnen sollen abends nicht in denselben Restaurants, Clubs und Opernhäusern verkehren. Man könnte meinen, das Bundesverfassungsgericht sei die oberste Macht im Staat. Es kann sogar Gesetze für nichtig erklären.
Das macht es aber nur selten, meist betont es den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers.
Dennoch sitzt das Bundesverfassungsgericht der Politik immer im Nacken. Wenn ein neues Gesetz diskutiert wird, gibt es in Deutschland stets zwei parallele Diskussionen. Ist das Gesetz sinnvoll? Und ist es verfassungskonform? Wer sich politisch nicht durchsetzen kann, geht nach Karlsruhe. Eine KlägerIn findet sich immer.
Im kommenden Jahr will Karlsruhe zum Beispiel über die deutsche Klimapolitik entscheiden, über Kinderehen, die Masern-Impfpflicht, die Erhöhung des Rundfunkbeitrags, den Ausschluss der NPD von der Parteienfinanzierung, den Berliner Mietendeckel und das Ceta-Abkommen von EU und Kanada.
Die Karlsruher RichterInnen sehen ihre Kontrolle als eine Art „Reflexionsschleife“ des politischen Systems. Wenn die Richter etwas beanstanden, dann meist unter Verweis auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip. Die Verfassungsrichter setzen dann ihre Abwägung an die Stelle der Abwägung des Gesetzgebers.
So können sie durch punktuelle Korrekturen größeren Unmut der Betroffenen auffangen. Die Karlsruher Urteile sichern damit die Akzeptanz für den Staat und stärken so letztlich auch das Berliner Zentrum.
„Nach Karlsruhe“ – nie „vor“
Auch die Möglichkeit, dass jede BürgerIn am Ende eines langen Instanzenwegs noch „nach Karlsruhe“ gehen kann, hat eine wichtige Funktion. Zwar sind nur 2 Prozent aller Verfassungsbeschwerden erfolgreich. Aber das Bundesverfassungsgericht wird als echtes Bürgergericht wahrgenommen.
Dies unterstreicht auch die äußere Gestalt des Gerichts. Es ist eben kein klassischer Justizpalast. Das Gebäude des Architekten Paul Baumgarten ist modern, bescheiden und transparent. Besonders prägnant wirkt der Kontrast zum direkt daneben liegenden Karlsruher Schloss.
Dass sich das Bundesverfassungsgericht als Gericht eigener Art versteht, unterstreicht es auch durch seine Pressearbeit. Was kein anderes Gericht wagen würde, ist in Karlsruhe üblich: Bereits am Vorabend von großen Urteilen können die Justiz-KorrespondentInnen eine Presseerklärung an der Pforte des Gerichts abholen, um sich mit den komplexen Argumentationen des Gerichts vertraut zu machen. Inzwischen hat allerdings die AfD gegen diese spezielle Karlsruher Praxis geklagt.
Residenz des Rechts
Wegen der Mischung aus alten Palästen und wichtigen Gerichten wird Karlsruhe auch die „Residenz des Rechts“ genannt. Noch vor dem Bundesverfassungsgericht kam 1950 der Bundesgerichtshof (BGH) nach Karlsruhe, das höchste deutsche Zivil- und Strafgericht.
Bis dahin war Leipzig das Zentrum des deutschen Justizsystems. Dort stand seit dem Kaiserreich das Reichsgericht.
Doch nun lag Leipzig in der DDR und der neue BGH brauchte einen anderen Sitz. Nach dem Krieg bewarben sich 12 Städte. In die Endauswahl kamen Köln (mit Unterstützung von Kanzler Adenauer) und Karlsruhe.
Letztlich gab den Ausschlag, dass Karlsruhe mit dem erbgroßherzoglichen Palais ein repräsentatives Gebäude anbot und rund 100 bezugsfertige Wohnungen für BundesrichterInnen freigehalten hatte.
Richter*innen machen in Immobilien
Natürlich wurde nach der Wiedervereinigung noch einmal über den Standort Karlsruhe diskutiert. Schließlich wäre nun ja auch ein Umzug des BGH nach Leipzig möglich gewesen. Aber die RichterInnen hatten nun überwiegend schöne Immobilien in Karlsruhe und Umland gekauft und deshalb wenig Lust, noch einmal neu anzufangen. Das konnten die RichterInnen aber nicht laut sagen.
Die Rückkehr in das alte Reichsgericht nach Leipzig galt vielmehr als „unzumutbar“ – wegen der Unrechtsjustiz im Faschismus. Jetzt residiert dort das Bundesverwaltungsgericht.
Mit dem BGH kam 1950 auch die Bundesanwaltschaft nach Karlsruhe. In strafrechtlichen Revisionsverfahren spielt sie die Rolle der Staatsanwaltschaft. Daneben leitet sie in wenigen, aber spektakulären Feldern auch die Ermittlungen der Polizei: wenn es um Terror, Spionage und Kriegsverbrechen geht.
Seit 1998 hat die Bundesanwaltschaft ein eigenes Gebäude in Karlsruhe, es wirkt wie ein helles, mediterranes Hotel, allerdings hinter hohen und breiten Mauern.
Geplantes Rechtsstaatsmuseum
Für die brave Beamtenstadt Karlsruhe ist die Rolle als Ort der Bundesjustiz wichtig – nachdem es das Herzogtum Baden nicht mehr gibt und im neuen Land Baden-Württemberg Stuttgart die erste Geige spielt. „Karlsruhe“ steht nun bundesweit als Synonym für den Rechtsstaat. Dazu gehört auch der Plan, in Karlsruhe ein interaktives Rechtsstaatsmuseum mit bundesweiter Ausstrahlung zu bauen, das „Forum Recht“. Es gibt schon Gremien, ein Gesetz und eine Stiftung. Wenn der Rechtsstaat so lange durchhält, soll er ab etwa 2030 in Karlsruhe auch pädagogisch verteidigt werden.
Leider war Karlsruhe auch eine Stadt des linken Terrors gegen den Rechtsstaat. Es begann im Jahr 1975 mit einem Bombenanschlag auf das Bundesverfassungsgericht. Eine Woche nachdem die Richter die fortschrittliche Fristenregelung für Schwangerschaftsabbrüche verboten hatten, zündeten die „Frauen aus den Revolutionären Zellen“ (die sich später Rote Zora nannten) einen Sprengsatz, der Sachschaden anrichtete.
Im Jahr 1977 starben dann Generalbundesanwalt Siegfried Buback und zwei Begleiter im Kugelhagel eines RAF-Kommandos.
Kurze Zeit später scheiterte ein RAF-Anschlag auf die Bundesanwaltschaft. Mit einem Flächenschussgerät vom Typ „Stalinorgel“ sollte von einem Haus gegenüber ein Blutbad angerichtet werden.
An diese Zeit erinnern vor allem die immer noch hohen Sicherheitsvorkehrungen in Karlsruhe.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Kaputte Untersee-Datenkabel in Ostsee
Marineaufgebot gegen Saboteure
BSW-Anfrage zu Renten
16 Millionen Arbeitnehmern droht Rente unter 1.200 Euro
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Psychiater über Kinder und Mediennutzung
„Die Dinos bleiben schon lange im Schrank“