Staatlicher Umgang mit NS-Opfern: Regierung will sich Zeit lassen
Die Linksfraktion fordert, dass NS-Opfer im Alten- oder Pflegeheim schnell eine höhere Opferrente erhalten. Die große Koalition hat es nicht eilig.
Was harmlos daherkommt, ist in Wahrheit ein nur schwer erträglicher Zynismus. Denn bei denjenigen, um die es geht, handelt es sich um Opfer der NS-Diktatur. Wenn die Bundesregierung ihre Prüfung abgeschlossen hat, ob ihre Leistungen in den nächsten Jahren in mehreren Teilschritten angehoben werden können, dürfte kaum noch einer von ihnen am Leben sein.
Der oben zitierte Satz stammt aus der Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage der Linksfraktion, bei der es um die Kürzung von Leistungen für NS-Opfer beim Umzug in ein Alten- oder Pflegeheim geht. Anlass war der Fall des am 5. Juli verstorbenen 96-jährigen Wehrmachtdeserteurs Ludwig Baumann, dessen monatliche „Härtefallbeihilfe“ die zuständige Generalzolldirektion Köln rückwirkend von 645,91 Euro auf 352 Euro monatlich heruntergekürzt hatte. Die Aufforderung der Behörde, insgesamt 3.453,46 Euro zurückzuzahlen, wurde an ihn zwölf Tage nach seinem Tod verschickt. Nun soll sein Sohn André Baumann zahlen.
Ludwig Baumann erhielt eine Opferrente nach den „Richtlinien der Bundesregierung über Härteleistungen an Opfer von nationalsozialistischen Unrechtsmaßnahmen im Rahmen des Allgemeinen Kriegsfolgengesetzes“. Derzeit bezieht nur noch ein sehr kleiner Kreis auf dieser Grundlage Leistungen, die laut den Härterichtlinien „den Betroffenen als Ausgleich für das erlittene Unrecht zugute kommen“ sollen.
BEG-Mindestrente zwischen 500 und 600 Euro
Nach Auskunft der Bundesregierung geht es um gerade mal noch 130 NS-Opfer. Davon leben 29 inzwischen in einem Alten- oder Pflegeheim. Dass sie weniger Geld bekommen, hält die Linksparteiabgeordnete Ulla Jelpke für unakzeptabel. Es sei ein Unding, „bei pflegebedürftigen NS-Opfern pauschal den Rotstift anzusetzen“. Das sei „kein würdiger Umgang mit Menschen, die von den Nazis gequält und auch von der Bundesrepublik über Jahrzehnte verachtet worden sind“, sagte sie der taz.
„Der ganze Ansatz der Entschädigungspolitik ist schon falsch“, kritisiert Jelpke. „Es gibt doch überhaupt keine Rechtfertigung dafür, dass Anträge nach dem Bundesentschädigungsgesetz seit 1969 nicht mehr gestellt werden können.“ Diese Einschränkung ist der Grund dafür, dass Baumann wie auch zahlreiche andere ehemalige KZ-Insassen, Zwangssterilisierte und Euthanasie-Geschädigte überhaupt die Härterichtlinien in Anspruch nehmen mussten und keine Mindestrente nach dem Bundesentschädigungsgesetz bekamen.
Die BEG-Mindestrente bewegt sich zwischen 500 und 600 Euro. Jelpke fordert, „so schnell wie möglich“ die Opferrente auch für Betroffene im Alten- oder Pflegeheim auf dieses Niveau anzuheben. Das würde „das jetzige Unrecht in den Entschädigungsregelungen zumindest abmildern“, so Jelpke. „Wir werden in den nächsten Wochen einen entsprechenden Antrag einbringen.“
Die Erfolgsaussichten sind allerdings mehr als ungewiss. Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) lässt bislang jedenfalls keine größere Bereitschaft zu einer baldigen Änderung der bestehenden Regelungen erkennen. Mit Blick auf den Fall Baumann rechtfertigt er stattdessen in einem Brief an die Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz die bisherige Praxis.
Ludwig Baumann sei ein „herausragender Zeitzeuge“ gewesen, der ihm „aus mehreren persönlichen Begegnungen in lebhafter Erinnerung“ geblieben sei, schreibt Scholz. Doch die Leistungskürzung in seinen letzten Lebensmonaten und die Rückzahlungsforderung an seinen Sohn seien trotzdem völlig korrekt: „Nach dem uns hier ersichtlichen Unterlagen ist das Verfahren entsprechend den Vorgaben der AKG-Härterichtlinien durchgeführt worden und daher nicht zu beanstanden“, heißt es in dem Schreiben vom 5. September, das der taz vorliegt.
Die Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz will sich damit jedoch nicht abfinden. „Aus Gründen des Respekts und der Billigkeit gegenüber den wenigen überlebenden NS-Opfern und ihren Angehörigen“ solle sich der Finanzminister doch bitte dafür einsetzen, dass die derzeitigen Vorschriften „schnellstmöglich geändert werden“ und Kürzungen künftig unterbleiben, appelliert Schriftführer Günter Knebel an Scholz.
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