Sportprofessorin über Bundesjugendspiele: „Leistungsgedanke bleibt wichtig“
Der Sportprofessorin Ina Hunger gehen die Änderungen bei den Bundesjugendspielen nicht weit genug. Diese verfehlten die Ziele modernen Schulsports.
taz: Frau Hunger, verstehen Sie die Aufregung um die angebliche Abschaffung der Bundesjugendspiele?
Ina Hunger: Nein. Als wäre es der Untergang der Leistungsgesellschaft, wenn aus einem „Wettkampf“ ein „Wettbewerb“ gemacht wird.
Was nur in der Grundschule gilt und nur bedeutet, dass Leistungen nicht mehr zentimeter- und sekundengenau gemessen werden.
Ja, ich hätte mir weitergehende Änderungen gewünscht. Aber grundsätzlich begrüße ich, dass die Verantwortlichen erkannt haben, dass die Bundesjugendspiele in ihrer seit Jahrzehnten bestehenden Form nicht mehr angemessen sind.
Inwiefern sind sie das nicht?
Offizieller Bildungsauftrag von Sportunterricht ist heute, die Bandbreite von Sport- und Bewegungsmöglichkeiten aufzugreifen und Heranwachsenden nahezubringen, warum es sich lohnt, Sport zu treiben: die Risikosuche, das Erleben von Gemeinschaft, die Verbesserung von körperlicher Leistung und einiges mehr. Die Bundesjugendspiele hingegen stellen einen winzigen Ausschnitt des olympischen Sports unter einem normierten Leistungsaspekt in den Vordergrund, auf den der Sportunterricht die Kinder aber kaum vorbereitet. Deshalb wird bei den Bundesjugendspielen das gemessen, was sie mehr oder weniger spontan können oder durch ihren außerschulischen Sport gelernt haben.
58, ist Professorin an der Universität Göttingen und leitet dort das Institut für Sportpädagogik. Zum Sportunterricht aus Sicht von Kindern forscht sie seit über 20 Jahren. Aktuell untersucht sie mit ihrem Team „Verunsicherungen im Sportunterricht“: Grenzüberschreitende Situationen im Sportunterricht sollen identifiziert werden, um über Aufklärung und Prävention zu mehr Sicherheit im Schulsport beizutragen.
Was wäre besser?
Wenn es bei den Bundesjugendspielen nicht um eine vermeintliche Bestenauslese, sondern um ein Sportfest gehen soll, das an den Unterricht anknüpft, dann muss Sport in seiner Vielfalt abgebildet werden: beispielsweise durch Wettbewerbe, bei denen die Kinder in ganz unterschiedlichen Bereichen ihre Leistungen miteinander messen können. Sie könnten das Sportfest auch gestalterisch dokumentieren, als „Sportjournalist:innen“.
Eine solche Herangehensweise würden Ihnen diejenigen, die sich über die vermeintliche Abschaffung der Bundesjugendspiele echauffiert haben, als „Kuschelpädagogik“ und „Flauschokratie“ auslegen.
Es geht nicht um die Abschaffung der Leistungsorientiertheit, sondern um ein Mehr an Möglichkeiten des Leistungsvergleichs jenseits von Zentimetern, Sekunden oder Punktetabellen – und nicht zuletzt um das Schüren von Freude an sportlicher Betätigung und Leistung.
Die Anhänger der Bundesjugendspiele argumentieren, diese seien ein Ausgleich für die Misserfolge bildungsferner Kinder in anderen Fächern. Gibt die Empirie das her?
Im Gegenteil. Es ist statistisch eindeutig, dass diejenigen, die in sogenannten bildungsfernen Haushalten aufwachsen, eher von Übergewicht, Bewegungsmangel und Sportabstinenz gefährdet sind, weil die Sozialisation in den Familien weniger bewegungsaffin ist.
Hinter der Argumentation steckt, glaube ich, die Idee vom physisch überlegenen Arbeiter.
Auch ein überholtes Klischee. Ich möchte mich aber nicht an diesen zum Teil wirklich haarsträubenden Argumenten abarbeiten, die die Bundesjugendspiele in ihrer Wirkkraft überhöhen und düstere Untergangsszenarien bei Abschaffung dagegensetzen.
In Ihrer Forschung befragen Sie Schüler:innen zu ihrem Erleben des Sportunterrichts. Äußern die sich auch zu den Bundesjugendspielen?
Ja, weil diese aus dem sonstigen Schulalltag hervorstechen. Aus Sicht der Kinder wird an diesem Tag vor allem bestätigt, was sie schon wissen: wer am weitesten werfen oder am schnellsten laufen kann.
Oder wer am langsamsten ist.
Genau. Das bekommen sie dann noch mal attestiert, für alle sichtbar.
„Die Bundesjugendspiele werden abgeschafft“, behaupten seit Anfang Juli mehrere Medien, darunter die taz. Darüber empören sich ausschließlich männliche Journalisten.
Das ist falsch. Es wurden nur minimale Änderungen beschlossen – sie betreffen die dritte und vierte Klasse der Grundschule. Für die erste und zweite gilt bereits seit 2001, dass Leichtathletik und Schwimmen nur noch als Wettbewerb und nicht mehr als Wettkampf durchgeführt werden dürfen.
Wettbewerb bedeutet: Es wird nicht mehr mit Maßband oder Stoppuhr gemessen, die Kinder landen in Zonen. Die Ergebnisse werden nach wie vor in Punkte umgerechnet. Für die schlechtesten 30 Prozent gibt es eine Teilnahme-, für die besten 20 Prozent eine Ehren-, für den Rest eine Siegerurkunde.
Ich habe in dem Zusammenhang in einem Kommentar das Wort „traumatisch“ verwendet, in dem Sinne, dass hier die Selbststeuerung abhanden kommt, Menschen sich ausgeliefert fühlen. Finden Sie das übertrieben?
Eine öffentliche Niederlage verursacht oft eine quälende Langzeitwirkung. Aber unabhängig davon: In der bisherigen Form verfehlen die Bundesjugendspiele ihren Zweck.
Den erkennen viele darin, dass die Kinder lernen, mit Niederlagen umzugehen.
Als gäbe es sonst keine Niederlagen im Leben von Heranwachsenden … Wenn der Umgang mit Niederlagen tatsächlich der pädagogisch erwünschte Lerneffekt sein sollte, sei die Frage erlaubt: Was genau sollen die Kinder lernen? Dass sie sich mehr anstrengen sollen? Dass andere besser sind? Dass Sport nichts für sie ist?
Sie haben mal gesagt, wenn man im Sportunterricht versage, habe man das Gefühl, als ganze Person zu versagen – anders als bei schlechten Noten in anderen Fächern.
Wer in Mathe an der Tafel versagt, wird wahrscheinlich auch sagen, das hat mich gedemütigt. Aber wir stellen fest, dass das öffentliche Versagen im Sportunterricht von anderer Qualität ist. Sportliche Leistungsfähigkeit hat etwas mit der körperlichen Verfassung zu tun, verweist auf das Freizeitverhalten und ist eben kein schulisches Ergebnis. In diesem Sinne verweist das Versagen auf sie als Person und nicht auf ihr Merkmal „Schüler“. Und da unter den gleichaltrigen Peers „Sportivität“ ein sehr hoher Wert ist, sind die Reaktionen auf ein Versagen hier oft härter und nachdrücklicher als in anderen Fächern.
Warum?
Körperliche Formen und Fitness werden in unserer Gesellschaft als Zeichen eigener Anstrengungen und des Lebensstils gedeutet. Nach dem Motto: Körper ist kein Schicksal, du musst dich um ihn kümmern, an ihm arbeiten. In diesem Sinne werden Körperformen auch Charaktereigenschaften zugesprochen.
Was meinen Sie damit?
Eine schlanke Figur wird als leistungsbereit gedeutet, Übergewicht als nicht anstrengungsbereit. Dabei hat sich das Bashing von Übergewichtigen sehr verschärft, auch wegen der Formen des Verfolgens in sozialen Medien.
Und im Sportunterricht wird immer noch ausgelacht und gelästert? Ich hatte gehofft, es hätte sich in den letzten 40 Jahren mehr geändert.
Es hängt natürlich von den Lehrkräften ab, welches Klima sie im Unterricht schaffen und wie sie Themen aufbereiten. Aber so etwas wie diese Mannschaftswahlen …
… bei denen immer dieselben zuerst und zuletzt gewählt werden …
… die halten sich leider sehr, sehr hartnäckig. Und selbst wenn junge Sportlehrkräfte in ihrer Ausbildung gelernt haben, dass so ein öffentlicher Selektionsprozess nach Beliebtheit und Sportivität nicht haltbar ist und es hundert andere Möglichkeiten gibt, eine Klasse gerecht aufzuteilen, beobachten wir mitunter, dass sie im Schulalltag wieder darauf zurückgreifen.
Warum?
Oft wird es als organisatorisch am einfachsten erachtet oder es wird darauf verwiesen, dass die Kinder dieses Verfahren einfordern. Dabei wird übersehen, dass diejenigen, die die Mannschaftswahlen laut einfordern, eben diejenigen sind, für die es vorteilhaft ist. Kinder, die als letztes gewählt oder an die andere Mannschaft „verschenkt“ werden, weil sie „es nicht bringen“, leiden still und fühlen sich nicht in der Position, solche Verfahren anzugreifen.
Werden die falschen Leute Sportlehrer:innen? An vielen Hochschulen gibt es schwere Eignungsprüfungen vor der Zulassung zum Sportstudium.
An der Universität Göttingen haben wir das abgeschafft. Wir wollten nicht das Signal geben, dass man gut mit der Kugel stoßen und schnell laufen können muss, um bei uns Sportlehrerin zu werden. Dadurch erreichen wir eine größere Vielfalt an Studierenden, also nicht nur die, die aus den traditionellen Sportarten kommen, sondern die bewegungsaffin zu ganz anderen Dingen sind und Lust haben, ihre Bewegungsfreude weiterzugeben.
Die sind geeigneter als der Leichtathletikcrack oder die Leistungsturnerin?
Nein! Das sind auch Menschen, die von Sport begeistert sind, was grundsätzlich gut und notwendig ist. Allerdings darf die eigene Begeisterung nicht den Blick auf die Unterschiedlichkeit der Kinder verdecken. Und persönliche Sporterfahrungen dürfen nicht den Blick auf die Bandbreite von Sport- und Bewegungsangeboten verengen. Problematisch wird es, wenn sich einzelne Lehrkräfte zu stark mit den sportlichen Schüler:innen identifizieren und übersehen, dass es Kinder gibt, die körperlich völlig überfordert sind, deren Schamgrenzen überschritten oder die sozial ausgegrenzt werden. Ungünstig ist auch, wenn Lehrkräfte nur ihr eigenes Sportmotiv zum Ausgangspunkt nehmen und andere Sinnperspektiven von Sport ausblenden. Sportunterricht braucht vor allem gute Lehrkräfte, er hat keine magischen Kräfte.
Aber genau dieser Anspruch wird an den Sportunterricht formuliert in der Debatte um die Bundesjugendspiele. Er soll die Kinder schlank, gesund und sportlich machen.
Ja, zum Teil werden klischeehafte Heilserwartungen geäußert. Aber die geläufige öffentliche Rede über das, was Sportunterricht leisten soll, überdeckt Folgendes: Sportunterricht ist weder ein Fitnessstudio noch der Zubringer für den deutschen Leistungssport. Dafür gibt es andere Institutionen! Zuallererst ist Sportunterricht ein Bildungsfach, das formal den anderen Fächern gleichgestellt ist. Im Sportunterricht können die Kinder nicht dünner und gesünder gemacht oder für Olympia qualifiziert werden.
Was kann er leisten?
Er kann Kinder für Bewegung begeistern und langfristig an Sport binden. Er kann jedem und jeder Heranwachsenden die Chance bieten herauszufinden, welcher Sport zu ihm oder ihr passt, was ihn oder sie antreibt, Sport zu machen. Manche kommen so zum Hochleistungssport, andere zum langsamen Laufen in der Natur. Aber Bandbreite alleine reicht nicht. Man kann auch Yoga schlecht oder diskriminierend unterrichten, wenn Kinder vorgeführt werden, weil sie zu schwer oder ungelenk sind.
Wie wirken sich negative Erfahrungen mit dem Schulsport auf die Bewegungskarriere aus?
Wir machen qualitative Untersuchungen, deshalb können wir das nicht in Prozenten beziffern. Wir wissen, dass es in jeder Klasse einige gibt, die sich vom Sport abwenden, weil ihnen vermittelt wurde, sie seien nicht sportlich, oder weil sie fürchten, sie erleben im außerschulischen Sport Momente wie die im Sportunterricht. Manche sagen sogar, sie ertragen den Geruch von Sporthallen nicht.
Das spricht für ein Trauma, wenn Situationen vermieden werden, weil Flashbacks drohen.
Mag sein. Häufig begegnet uns, dass die Menschen doch irgendwie ihren persönlichen Weg finden. Die sagen: „Ich habe immer gedacht, ich habe einen unsportlichen Körper.“ Und dann erfahren sie später, dass sie zwar keine Kugelstoßerin werden, aber eine ausdauernde Wanderin.
Sie arbeiten auch an Handlungsleitfäden für Sportlehrer:innen. Müssen Sie noch extra sagen, dass Völkerball ein No-Go ist? Man wird gejagt, oft brutal abgeworfen und dann muss man am Rand stehen und zugucken.
Das Völkerballspiel hat sich über Generationen hinweg zu einem Ritual eingeschliffen, obwohl es hunderttausend Spiele gibt, die Jagen und Entkommen zum Themen haben. Ein Grund dafür ist, dass Sport oft fachfremd unterrichtet wird. Wenn man Sport nicht studiert hat, greift man möglicherweise erst recht auf das zurück, was man aus dem eigenen Unterricht oder aus der Freizeit kennt. Man übernimmt ein Spiel ohne zu reflektieren, was es leisten soll. Oder eine bekannte Methode, ohne für sich zu klären, ob andere Methoden vielleicht zu besseren Ergebnissen führen.
Was ist daran problematisch?
Eine Lehrkraft muss begründen können, warum sie etwas mit den Schüler:innen macht. Wenn sie nur sagen kann „Ich mache das, weil andere das auch machen“, dann gute Nacht, dann kann gezielte Förderung nicht mehr stattfinden. Es gilt immer zu prüfen, ob ein Angebot hinreichend Lernpotenziale in sich trägt. Und auch, ob es Diskriminierungsdimensionen birgt. Sportlehrer:innen müssen ihrer hohen Verantwortung für den Körper und für die Psyche ihrer Schüler:innen gerecht werden.
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