Sportmediziner über Doping bei Olympia: „Erwischt werden die armen Trottel“
Dass Russland das schlimmste Doping betreibe, sei sehr unwahrscheinlich, sagt Perikles Simon. Im Westen stünden Athleten genauso unter Druck.
taz: Herr Simon, schauen Sie sich eigentlich die Olympischen Spiele im Fernsehen an?
Perikles Simon: Ein bisschen werde ich schon aus beruflichen Gründen schauen. Beim 100-Meter-Finale etwa interessieren mich die Zeiten und wie sie zustande kommen. Meistens sind sie ja viel schneller als sonst unter dem Jahr. Und mich interessiert der technische Bereich.
Was meinen Sie damit genau?
Bei den 100-Meter-Finals der letzten 20 Jahre sind die Athleten immer schlanker geworden. Sie sind vielleicht nicht mehr mit anabolen Steroiden gedopt. Es stellt sich dann aber die Frage: Wie schaffen sie es, trotzdem schneller zu laufen als der Kanadier Ben Johnson in Seoul 1988. Es ist auch interessant, in welchen Phasen so ein Rennen besonders schnell ist oder wie erschöpft die Läufer durchs Ziel kommen.
42, ist seit 2009 Leiter der Abteilung für Sportmedizin der Uni Mainz. Der Molekularbiologe hat ein Nachweisverfahren für Gendoping entwickelt und zählt zu den renommiertesten Dopingexperten.
Kann man Sie sich wie einen Trainer vorstellen, der sich so einen Lauf mehrmals am Fernseher vor- und zurückspult?
Ja, genau. Interessant sind auch die technischen Umstellungen beim Schwimmsport, wo sich der Armzug in den letzten 15 Jahren verändert hat. Man fragt sich: Warum sind die nicht schon in den achtziger Jahren auf die Idee gekommen, viel glatter durchzuziehen und nicht den lächerlichen Umweg, diesen S-Zug im Wasser, zu machen. Aber ein Schultergelenk muss erst einmal in der Lage sein, eine solche Belastung zu verkraften. Warum ist das jetzt möglich und früher nicht?
Doping würde man jetzt doch wohl vermuten.
Das muss man nicht immer so assoziieren. Aber ich hoffe in Rio auf eine gute Berichterstattung, die solche technischen Aspekte mit im Blick hat und diskutiert. Ich hoffe, dass Leistung nicht nur hochgejubelt, sondern analysiert wird, wie sie zustande kommt.
Das wäre neu.
In der Vergangenheit wurde immer versucht, Emotionen zu transportieren und rein auf der emotionalen Ebene diese Events zu begleiten. Das kann man bei Rock- und Popkonzerten gern machen, aber in der gegenwärtigen Lage des Leistungssports nicht.
Bei den Spielen in London haben Sie bereits von voraussichtlich 60 Prozent gedopten Athleten gesprochen, jüngst nun von den gedoptesten Spielen aller Zeiten, die uns in Rio erwarten.
Mit meiner Aussage beziehe ich mich nicht auf den Prozentsatz der Doper. Der hat sich vielleicht in den letzten 20 Jahren nicht groß verändert. Es geht um das System. Wenn Leichtathletik-Top-Funktionäre russische Dopingproben unter den Tisch kehren und sich dafür auch noch bezahlen lassen, ist ein neues Level erreicht.
Der Antidopingkampf scheint nach dem aufgedeckten systemischen Doping in Russland vor einer neuen Herausforderung zu stehen?
Es ist sehr unwahrscheinlich, dass Russland das schlimmste Doping betreibt. Das beweisen auch Untersuchungen, die uns der Leichtathletikweltverband als Auftraggeber verbietet zu veröffentlichen. Bei der WM in Daegu 2011 haben 30 Prozent der Athleten bekannt, schon manipuliert zu haben.
Warum steht Russland aber nun allein im Fokus?
Das war über investigativen Journalismus möglich. In unserem System, ob das Deutschland oder England ist, können Sie Doping in so einer einfachen Form des Journalismus über einzelne Whistleblower nicht offenlegen. Da müssen Sie mit staatlichen Maßnahmen ran.
Ist systemisches Doping nicht schlimmer als individuell organisiertes?
Der Athlet in der westlichen Sphäre steht genauso unter Druck. Es wäre lächerlich zu sagen, er hätte eine freie Entscheidung.
Wie unterscheiden sich die beiden Formen des Betrugs?
Es wird in der westlichen Hemisphäre sicherlich deutlich vorsichtiger und mit Hightechdoping agiert. Den Russen ist auch zum Verhängnis geworden, dass sie geglaubt haben, sie könnten noch alte Ladenhüter wie Anabolika einsetzen. Aber warum diskutiert man nicht, weshalb Deutsche und Engländer es eigentlich schaffen konnten, diese Athleten aus dem Dopingsystem Russlands immer wieder zu schlagen.
Das wird auch in Rio so sein.
Ich befürchte, wenn es in Rio russische Athleten aufs Treppchen schaffen, dass sie dann auch ausgebuht werden. Die Zeit ist noch nicht reif für die Erkenntnis, dass wir ein flächendeckendes Problem haben.
Der IOC hat diese Woche angekündigt, das Antidopingsystem auf völlig neue Füße zu stellen. Glauben Sie an fundamentale Veränderungen?
Allein die Art und Weise, wie mit dem Staatsdoping in Russland bislang umgegangen wird, zeigt, dass es keine Erneuerung geben wird. Die Schuldfrage wird immer noch individualisiert. Ich sehe nicht, dass Russland international zu Veränderungen genötigt wird.
Waren Sie für einen Kollektivausschluss Russlands?
Ich hätte andere Sanktionsmodelle bevorzugt. Man könnte ja in den nächsten Jahren Großsportevents in Russland nicht mehr ausrichten. Es ist ein System, das hinter dem Doping steht, aber das System wird nicht bestraft.
Wie ist das zu erklären?
Ich nenne es das Ben-Johnson-Prinzip. Es muss einer herhalten in der Hoffnung, alle anderen werden jetzt vernünftig. Aber die registrieren, dass man die Enttarnungsmöglichkeiten ohnehin nur in homöopathischer Dosis einsetzt, bei der Tour de France zwei Epo-Proben nimmt, wo man 150 Fahrer auf einen Schlag hätte überführen können. Der Nichtdoper denkt sich, was gibt es für einen Grund, nicht zu dopen. Nur die armen Trottel werden erwischt. Das ist unser Antidopingsystem. Antidoping fördert massiv Doping.
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