piwik no script img

Sport ist mehr als 1:0

■ 34 Jahre lang für Radio Bremen am Ball: Helmuth Poppen tritt ab

Irgendetwas war schief gelaufen. Auf einem Nebenplatz in der Pauliner Marsch nahe dem Osterdeich kickten die Berliner Philharmoniker gegen das Bremische Philharmonische Staatsorchester, und Helmuth Poppen sollte den Maestro interviewen. Der hieß damals schon Herbert von Karajan.

Nach dem Gespräch dann die Katastrophe: Bandsalat. „Ich ging zu meinem Techniker, und der hat mich gerettet: 20 Meter Band waren noch brauchbar, und während diese 20 Meter durch die Maschine liefen, lief ich am anderen Ende des Bandes und hielt es straff, damit es sich nicht wieder verhedderte.“ Das war Radio!

Helmuth Poppen, Sportchef beim Hörfunk von Radio Bremen, geht nach 34 Berufsjahren in den Ruhestand. Angefangen hatte alles mit einer Reportage über Amateurringer. „BSV gegen Wolfsburg, damals noch Oberliga: Elf Zuschauer, vier Minuten sollte ich machen, und ich hatte keine Ahnung“, erinnert er sich heute. Aufgehört hat es am 21. März mit dem letzten „Sportplatz“ auf der Hansawelle. „Ich habe alles gemacht, was es gibt, aber man muß aufhören, solange man noch kann.“

Was da alles zwischen liegt: Gespräche und Geschichten mit Max Schmeling, Günter Netzer, Uwe Seeler, Sepp Herberger, Helmut Schön... Und mit Bernd Trautmann, der bei TURA Bremen Fußball spielte, nach englischer Kriegsgefangenschaft bei Manchester City Fußball-Profi und Gewinner des Europa-Pokals wurde. Und mit Gert Fröbe, der so laut ins Studio-Mikrophon donnerte, daß es fast den Sender herausgehauen hätte. Und mit Paavo Nurmi, dem finnischen Langstreckenwunder und fünffachen Goldmedaillen-Gewinner der Olympiade von Paris 1924, der den Sinn seiner sportlichen Erfolge im hohen Alter anzuzweifeln begann. Und mit Max Tau, dem Schriftsteller, der im III. Reich nach Norwegen emigrierte und sich später samstags regelmäßig die Fußball-Ergebnisse durchtelefonieren ließ: Helmut Poppen kennt sie alle, und noch mehr.

Manche sind aufbewahrt in Witzen, die er gern erzählt, zum Beispiel: „Da hängt ein Pelzmantel in einer Gastwirtschaft, darauf ein Zettel: Klauen zwecklos, Besitzer Max Schmeling. Dann ist der Mantel weg, und ein anderer Zettel hängt da: Verfolgung zwecklos, Dieb ist Nurmi.“

Vor seiner sportjournalistischen Karriere legte der gelernte Schiffsmakler Poppen gerne selbst Fuß an — und gut: Mit dem VfB Comet trat der Halbrechte 1948 auf dem Zollinland-Platz in Bremerhaven gegen die 93er an und verpaßte mit einem 0:1 nur knapp den Einzug seiner Mannschaft in die Oberliga Nord, damals die höchste Spielklasse. In seinem besten Fußball-Jahr schoß Poppen 34 Tore. Erst als er bei Radio Bremen einstieg, hängte er die Stiefel an den Nagel.

Das war 1957. Poppen, der Autodidakt, liest bei den Großen nach: Kästner, Brecht, Polgar, von Horvath, Böll: „Alle haben sie über Sport geschrieben, aber bei allen sind das nur Eintagsfliegen geblieben.“ Poppen reist als Sportreporter um die Welt, auch im Auftrag der ARD, „Europas größtem Reisebüro.“ Immer live dabei, während eines Poststreiks bei den Tennismeisterschaften in Wimbledon improvisiert er mit Telefon. „Das Radio muß den Hahn aufdrehen, wenn was passiert.“

Poppen macht Radio und Fernsehen. Er ist dabei, als 1963 das erste Bundesliga-Tor fällt, natürlich im Weser-Stadion. 100 Sekunden sind gespielt, da trifft der Dortmunder Konitzka zum 0:1. Wer nicht dabei war, wird es nie mehr sehen: „Die Kameras waren noch nicht fertig aufgebaut: Dieses erste Bundesliga-Tor, das gibt es nicht auf Film.“

Er kommentiert die ersten Europapokalspiele von Werder Bremen nach dem Gewinn der Deutschen Meisterschaft 1965, seine Reportagen vom Tennis werden berühmt, weil er an den entscheidenden Stellen nichts sagt. „Man kann doch nicht in einem Ballwechsel hineinquasseln, da geht doch die ganze Konzentration verloren.“

Ein Detail am Rande, das Poppen freimütig erzählt: Was macht ein Reporter, der nach vier Stunden Tennis-Finale aufs Klo muß? Antwort, betreffend 1982, McEnroe gegen Connors: „Ich bin beim Wechsel im fünften Satz runtergelaufen, in Wimbledon sind die Toiletten ganz unten. Was sollte ich sonst machen?“ Erinnerungen! „Nach 40 Reportagen hast Du Erfahrung, nach 100 Routine, und wenn Du die hast, dann mußt Du sie schnell wieder loswerden.“ Eine einfache Regel: „Ein 7:0 muß anders klingen als ein 0:0“, und das Geheimnis der echten Reportage: „Immer auf Ballhöhe sein, immer das erzählen, was gerade passiert, und wenn der Ball dann mal im Aus ist oder ein Spieler verletzt, dann kann man kommentieren.“ Kann es schlimmeres geben als einen Reporter, der auf Sendung übers Wetter plauscht und plötzlich fällt ein Tor?

1984 trennte Radio Bremen Hörfunk und Fernsehen. Poppen wählte das Radio und kreierte den „Sportplatz“. Alle ARD-Sender haben ihre samstägliche Sportsendung, in Bremen ist sie, wie so oft, etwas anders. Poppen stellt über den Hörer-Tip eine Leitung nach „draußen“ her, und sein „Sportfreund Anton“ ist der einzige Sportkommentar, der einen festen Platz im Programm hat. „Wir haben es gerne immer etwa anders gemacht“, sagt Poppen.

Zu seinen besten Sendungen gehörte eine Live-Sendung aus der Bremer Justizvollzugsanstalt. „Sport als Lebenshilfe“ war das Thema; mit dabei: Horst-Dieter Höttges, „Pico“ Schütz und Otto Wanz.

Nicht wer, sonder warum jemand gegen den Ball tritt: Das war die spannende Frage, der Poppen mit seiner journalistischen Arbeit auf den Grund gehen wollte. Sport, das hat für ihn immer auch einen kulturellen Hintergrund. „Berufssportler, das ist in Ordnung, aber die Relationen stimmen nicht mehr. Ebensowenig wie der kulturelle Hintergrund im Sportjournalismus. „Man wird doch heute von der Aktualität aufgefressen. 1:0 in der zwanzigsten Minute durch Müller, Flanke von rechts, und das war es dann. Aber Sport ist mehr als 1:0!“ Markus Daschner

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen