Spitzenkandidaten zur EU-Wahl: Gesichter für die Wahlfreude
Erstmals gibt es Kandidaten für den Vorsitz der EU- Kommission. Ob diese Personalisierung gegen die Wahlmüdigkeit hilft?
BRÜSSEL taz | Stell dir vor, es ist Europawahl und keiner geht hin! Der Albtraum aller EU-Politiker wurde schon mehrfach wahr. 2009 gaben nur 43 Prozent aller Wahlberechtigten ihre Stimme ab, die Beteiligung sinkt seit der ersten Direktwahl 1979 kontinuierlich. Doch diesmal soll alles besser werden: mit europäischen Spitzenkandidaten.
Der Chef des Europaparlaments, Martin Schulz (SPD), sprach es als Erster aus. Mit Hinweis auf den EU-Vertrag von Lissabon, der dem Parlament mehr Macht gibt, forderte Schulz bisher Unerhörtes: Die Parteien sollten gemeinsame Spitzenkandidaten aufstellen – und der Wahlsieger solle dann zum nächsten Chef der EU-Kommission aufsteigen.
Die Idee dahinter ist so simpel wie einleuchtend: Nur durch gemeinsame Kandidaten, die in allen 28 EU-Ländern auftreten, lässt sich eine europäische Öffentlichkeit schaffen. Und nur durch das Versprechen, den Sieger zum Kommissionschef zu machen, erhält die Wahl eine tiefere Bedeutung. Mit rein nationalen Kandidaten und Debatten lassen sich die Bürger nicht hinterm Ofen hervorlocken.
Jean-Claude Juncker (59) ist Spitzenkandidat der Euro-Konservativen, der EVP. Er war von 1995 bis 2013 Premier von Luxemburg und 2005-2013 Vorsitzender der Euro-Gruppe.
Martin Schulz (58) ist Spitzenkandidat der Euro-Sozialdemokraten S&D. Der Buchhändler wurde mit 31 in Würselen NRWs jüngster Bürgermeister, sitzt seit 1994 im EU-Parlament, seit 2012 als dessen Präsident.
Alexis Tsipras (39) ist Spitzenkandidat der Europäischen Linken GUE/NGL. Er ist Chef des Syriza-Bündnisses, der in aktuellen Umfragen stärksten politischen Kraft Griechenlands.
Guy Verhofstadt (61) ist Spitzenkandidat der Euro-Liberalen ALDE. Der Expremier Belgiens (1999-2008) ist Vorsitzender der Fraktion im EU-Parlament.
José Bové (60) und Ska Keller (32) sind für die Euro-Grünen gleichberechtigt im Rennen. Bové ist französischer Landwirt, Attac-Mitgründer, und wurde verurteilt wegen der Zerstörung einer McDonald's-Filiale und einiger Genmais-Plantagen. Keller studiert in Berlin und sitzt seit 2009 im EU-Parlament.
Amelia Andersdotter (26) und Peter Sunde (35) stehen an der Spitze der europäischen Piraten. Die Schwedin Andersdotter hat VWL und Spanisch studiert. Da es noch keine Piratenfraktion gibt, sitzt sie derzeit in der Grünen-Fraktion des EU-Parlaments. Sunde ist norwegisch/finnisch/schwedischer Herkunft. Der IT-Experte hat Flattr und The Pirate Bay mitbegründet.
Die EU-Kommission stellte sich hinter den Vorstoß. Doch der mächtige Rat, in dem auch Kanzlerin Angela Merkel sitzt, mauert. Bis heute ist nicht klar, ob Merkel und die anderen EU-Chefs das Spiel mitspielen. Ihr oberster Zeremonienmeister, Ratspräsident Herman Van Rompuy, äußerte sich sogar ablehnend: „Ich bin kein begeisterter Anhänger dieser Idee mit den Spitzenkandidaten“, sagte er.
Chaos bei der Nominierung
Zu spät: Schulz hat sich durchgesetzt, alle Parteien machen mit. Als erste kürten die Sozialdemokraten Schulz zu ihrem Frontrunner. Kurz danach nominierten die Grünen José Bové und Ska Keller. Die Linke schickt den griechischen Eurokritiker Alexis Tsipras ins Rennen.
Die Nominierung lief nicht immer rund. Bei den Grünen nahmen nur rund 20.000 Menschen an einer europaweiten Urwahl nach US-Vorbild teil, manche Länder wie Österreich zogen gar nicht mit. Ausgerechnet die deutschen Grünen konterkarierten ihre EU-weit gewählten Spitzen mit einer nationalen Liste, die von Rebecca Harms angeführt wird. Am chaotischsten lief die Nominierung aber bei Merkels Konservativen. Die Kanzlerin wollte zunächst gar keinen Spitzenkandidaten. Als sie sich schließlich auf den abgewählten Luxemburger Premier Jean-Claude Juncker einließ, tauchte unerwünscht plötzlich EU-Binnenmarktkommissar Michel Barnier als Gegenkandidat auf, setzte sich aber nicht durch.
Duell mit Tücken
Juncker tritt nun gegen Schulz an – nur die beiden haben echte Chancen, Kommissionspräsident zu werden. Doch auch dieses Duell hat seine Tücken. Zum einen torpediert Merkel die Idee der europaweiten Spitzen, indem sie sich selbst auf den Wahlplakaten zeigt – und eben nicht Juncker. Zum anderen ist das Duell sehr deutschlastig. Schulz ist Deutscher, Juncker spricht deutsch, die großen TV-Debatten werden in deutscher Sprache abgehalten. Noch nicht einmal in Frankreich war zunächst eine Live-Übertragung geplant.
Ein bisschen ist es so, als würden nur die Kandidaten des „deutschen Europa“ miteinander streiten. Zudem sind Juncker und Schulz keine neuen Gesichter, sondern ziemlich alte Hasen im Brüsseler Geschäft. Schulz verspricht zwar einen „Politikwechsel“ – weg von der harten Austeritätspolitik, hin zu einem sozialeren und grüneren Kurs. Doch als Parlamentschef hat er viele Sparpläne mit abgesegnet. Und Juncker zieht schon jetzt Ideen zurück, die Merkel stören könnten – zum Beispiel gemeinsame Anleihen (Eurobonds).
Um Kommissionschef zu werden, sind beide zudem auf Mehrheiten im neuen Europaparlament angewiesen. Da kommen dann die Liberalen ins Spiel, die sich mit ihrem Spitzenkandidaten Guy Verhofstadt – einem belgischen Föderalisten – schon als Königsmacher empfehlen. Grüne, Linke und noch Kleinere hingegen werden ausgegrenzt. Und so könnte alles doch noch im üblichen Gekungel enden.
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