Spielplatz-Kolumne: Das Publikum weiß, wen es will
Public Viewing des Spieles Christian Wulff gegen Joachim Gauck am Platz der Republik direkt am Reichstagsgebäude
![](https://taz.de/picture/305826/14/reichstag_05.jpg)
Anpfiff ist um zwölf. Ungewöhnliche Uhrzeit für ein Spiel, aber das hier ist ja auch nicht gewöhnlich. Schiri Norbert Lammert tritt ans Pult und eröffnet. Und dann geht es los.
Während auf dem Platz die Bewegung zunimmt, bleiben die Zuschauer ruhig. Kein Wunder: Die Sonne knallt, und die Schattenplätze sind rar. Trotzdem mehren sich die Grüppchen vor dem großen Bildschirm am Reichstag. Fanmeilenfeeling gibt es allerdings nicht.
Dann passiert zwei Stunden erst mal nix. Das Spiel läuft hinter den Kulissen ab, hin und wieder wird mal reingeschaltet, ansonsten werden Experten befragt. Es ist die rechte Zeit, mit anderen Fans in Kontakt zu treten. Da sind zum Beispiel Wilfried und Christel Igstadt aus Wiesbaden. Sie sind extra zum Public Viewing nach Berlin gekommen. Fürs Flair. "Mein Mann hat diese Woche Geburtstag und wir wollten was Besonderes machen", erzählt Frau Igstadt. Ihnen gefällt es, zwischen den anderen Menschen die Entscheidung mitzuerleben.
Auf die Fanmeile wollen sie aber nicht. So was hätten sie früher gemacht. Als sie auch noch auf Konzerte gingen. Und wer ist ihr Favorit? "Joachim Gauck. Der ist eine Persönlichkeit mit Ecken und Kanten", sagt Herr Igstadt. Christian Wulff ist ihm zu glatt gebügelt.
Mittlerweile haben sich mehr Leute dem Spektakel angeschlossen. Über 200 Menschen, verteilt auf Vorplatz, Wiese und sonstiger Umgebung des Reichtags. Ein Leierkastenmann singt politische Texte. Die Sonne knallt.
Kurz vor 14 Uhr wirds in der ARD hektisch. Ein Blumenstrauß wurde gesichtet. Gibt es einen Sieger? Und - oh Gott - wurde wieder getwittert? Ach nein, es sieht doch aus, als wäre es noch nicht vorbei. Oder doch? Frau Merkel ist so ruhig!
Um 14.14 Uhr gibts die erste Gelbe Karte. Für Wulff. Das Publikum applaudiert. Dann ist erst mal Pause.
Die zweite Halbzeit beginnt. Auch diese Hälfte verspricht nicht viel spannender als die erste zu werden. Warum kommt man überhaupt hierher? War nicht von Anfang an klar, dass die Partie Wulff gegen Gauck nichts fürs Public Viewing ist? "Ich habe keinen Fernseher", verrät ein junger Mann. Ein anderer will seinen Kollegen besuchen, der aber heute keine Zeit hat. Und wieder andere finden es einfach nur toll, dieses Erlebnis mit anderen Menschen zu teilen.
Die meisten der Anwesenden scheinen für Gauck zu sein. Jedenfalls erntet der Moderator jedes Mal Jubel, wenn er eine Verlängerung im dritten Wahlgang in Aussicht stellt. Wulff sei zu flach. Er sei zu politisch. Er habe keine Reibfläche. Anscheinend hat ihn aber diese Glätte dorthin gebracht, wo er jetzt ist. Er ist immer bis zum Ziel durchgeflutscht. Vielleicht hält ihn ja diesmal Gaucks Reibfläche auf.
Jedenfalls erntet Wulff eine zweite Gelbe. Dass das in der Politik nichts bedeuten muss, ist bekannt. Es geht also in die Verlängerung. Das kann dauern.
Mittlerweile haben sich noch mehr Leute angefunden. Die Sonne hat etwas nachgelassen, ein paar Wolken sind aufgezogen. So lässt es sich auch auf dem Boden vor dem Bildschirm aushalten. Die meisten Zuschauer überrascht der Zwischenstand. "Ich habe damit gerechnet, dass die zumindest beim zweiten Mal stärker demonstrieren, dass sie zusammengehören", sagt ein Zuschauer. Ohne Zusammenhalt kann man jedenfalls kein Spiel gewinnen. Das erfahren heute auch die Spieler in den gelb-schwarzen Trikots.
Der Spieltag ist noch nicht vorbei. Es bleibt weiterhin spannend. Während der Abend hereinbricht, finden sich weitere Schaulustige ein. Man kann ein solches Ereignis eben doch gemeinsam erleben und feiern. Vor allem die Fans vom rot-grünen Team müssen sich heute Abend nicht allein fühlen. Hier auf dem Platz vor dem Reichstag.
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