Spielfilmdebüt „Sag du es mir“ im Kino: „Wat?“ als philosophische Frage
Der Spielfilm „Sag du es mir“ erzählt ein Verbrechen in mehreren Versionen. Nebenbei zeigt er Beziehungen, die von Nichtkommunikation geprägt sind.
Der Film „Rashomon“, Akira Kurosawas 1950 inszenierte Auseinandersetzung mit den Themen Wahrheit, Schuld und Ursache, brachte in der Rechtswissenschaft und der Philosophie einen bestimmten Terminus hervor: Der „Rashomon-Effekt“ bezeichnet die prinzipielle Unzuverlässigkeit von Augenzeug*innen.
Kurosawa erzählte damals in beunruhigenden, schwarz-weißen Sequenzen aus vier unterschiedlichen Perspektiven von der Vergewaltigung einer Frau und der Ermordung ihres Mannes – jede*r hat etwas anderes erlebt. Denn das vermag ein Film, anders als die Wirklichkeit: Aus verschiedenen Wahrheiten eine neue, (bis auf Weiteres) endgültigere generieren – die des Zuschauers oder der Zuschauerin.
In Michael Fetter Nathanskys Abschlussfilm an der Filmuniversität Babelsberg „Sag du es mir“ steckt dieses Vermögen schon im Titel. Seine Handlung ändert sich mit dem, der sie wiedergibt. Zunächst scheinen die Story klar und die Rollen verteilt zu sein: Die energische, herzliche Moni (Christina Große) kehrt nach Jahren auf Mallorca zurück nach Potsdam, um ihrer jüngeren Schwester Silke (Gisa Flake) beizustehen.
Silke, das wird am Anfang in einer regungslosen, sommerlichen Hochhaus-Totale gezeigt, wurde aus heiterem Himmel von einem fremden Mann von einer Brücke in die Havel gestoßen. Silke überlebt, trägt aber einen Schock im Herzen und eine Zervikalstütze um den Hals. Die quasselige Moni kümmert sich darum bis zur Übergriffigkeit und nervt die lakonische Silke alsbald mit ihrer Fürsorge.
Die nächste Nacht, steckt Silke ihr somit schnell, solle ihre große Schwester lieber im Hotel verbringen. Jene pragmatische Silke scheint eh die Ausgeburt von brandenburgischem Fatalismus zu sein: „Mir passiert nichts Überraschendes“, legt Regisseur und Drehbuchautor Fetter Nathansky seiner Protagonistin in den Mund, „wenn’s etwas Schlechtes ist, weiß ich’s schon, und wenn’s etwas Gutes ist, passiert’s nicht“.
Wer schubste Silke?
Doch Moni hört nicht auf zu stochern. Sie macht einen zufälligen Bekannten zum Privatschnüffler in der „Wer schubste Silke?“-Sache, und als sich herausstellt, dass der Polizist René (Marc Benjamin Puch), ein Plattenbaunachbar, Silke anscheinend die Schuld für den Selbstmord seines Bruders gibt, der Silkes Kollege war, scheint die Frage nach Ursache, Wirkung und Handlung geklärt: Moni hat einen Schuldigen gefunden.
Fetter Nathansky jedoch nicht. Seine Idee geht weiter. Mit großer Liebe zum Ort und zum lokal-märkischen Idiom und mit dem philosophischen und sozialtheoretischen Wissen, dass es ohnehin mehr als eine Wahrheit gibt, ändert er die Erzählperspektive seines Films. Somit erlebt man zwei weitere Varianten der Geschichte – und erkennt, dass Moni, Silke und René Unterschiedliches wahrnehmen und dass die erzähltechnisch generierten Lücken in der Story nicht für alle Beteiligten die gleichen sind.
Um Spoiler zu vermeiden, soll es hier bei der ersten Storyline bleiben: Was Moni in der Zeit macht, in der wir sie nicht sehen, was René umtreibt, wenn er als Polizist arbeitet, all dies deckt der Film Schicht für Schicht, Überraschung für Überraschung auf.
Der Regisseur und der engagierte Cast konstruieren Realitäten – und das hemdsärmelige „Wat?“, mit dem die Handelnden immer wieder augenbrauenbewegend voreinander stehen, zieht sich einer philosophischen Frage gleich durch den Film – und überhaupt, wer sagt denn, dass ein „Wat?“ nicht philosophisch sein kann?!
Das „Wat?“ zieht sich als philosophische Frage durch den Film
Nebenbei entwirft Fetter Nathansky in wenigen, liebevollen Strichen Beziehungen, die von klassischer, an Absurdität grenzender Nichtkommunikation geprägt sind: „Ick dachte, du hättest dir die Haare blau jefärbt“, sagt Monis und Silkes behäbiger Vater irgendwann zu seiner Tochter. „Hab ick aber nich“, antwortet Moni. Darauf er: „Dacht’ ick ja ooch nur“. Und sie: „Hab ick aber nich.“ Und so könnte es ewig weitergehen.
Später bitten die Töchter den Vater, in dessen rumpelig-gemütlichem Häuschen sie kurz unterkommen, sie aus reinem Jokus in den Schlaf zu singen – wohl wissend, dass der Mann dabei immer selbst eindöst.
Wahrheit und Dichtung
Der Regisseur hatte vor vier Jahren einen Kurzfilm namens „Gabi“ gemacht, Hauptdarstellerin war, in einer kurzen, eindrücklich-komischen Szene, ebenfalls Gisa Flake – es ging auch damals mit märkischem Flair um die Unterschiede zwischen Wahrheit und Dichtung.
Gabi (Gisa Flake) hatte ihrer Schwester (Britta Steffenhagen) gegenüber in typischer Therapie-Manier („Es ist gerade einfach zu viel“) ihr Herz ausgeschüttet, aber sie nach tränenreicher Umarmung aufgefordert, einfach „dit gleiche nochmal“ zu fragen – was die soeben erlebte Dramatik auf eine urige Art entlarvte.
Jene Leichtigkeit und jenes Vertrauen in seine überzeugenden Darsteller*innen hat Fetter Nathansky in seinen beeindruckenden Erstlingsfilm hinübergerettet: Brandenburg schützt vor Philosophie nicht. Und was wirklich passiert ist, bleibt ohnehin im Auge des Betrachters – ob ihm dit nun jefällt oder nich.
Leser*innenkommentare
Ringelnatz1
Ich habe den Film noch nicht gesehen.
Die Schauspielerinnen finde ich gut.
Gisa Flake
www.youtube.com/watch?v=h4AA2LC9gYQ
Christina Große
www.youtube.com/watch?v=1b-MUbHCDZA
In dem Link habe ich auch noch Lisa Wagner erspäht. Auch eine klasse Schauspielerinn.
Daran knispele ich jetzt herum... Brandenburg schützt vor Philosophie nicht...
Es gibt noch Hoffnung... ob ihm dit nun jefällt oder nich...!