Spielfilm zur Geschichte des Anarchismus: Zwischen Spiel und Strenge

Anarchisten in einer Schweizer Uhrenfabrik sorgen für Unruhe in Cyrils Schäublins Film. „Unrueh“ ist zu sehen in der Berlinale-Reihe Encounters.

Eine junge Frau, eine Lupe ins Auge geklemmt, arbeitet mit feinen Instrumenten

Josephine Gräbli (Clara Gostynski) in „Unrueh“ Foto: Seeland Filmproduktion

Unterwürfig versichern sich die beiden Polizisten beim Fotografen, ob sie sich auch sicher außerhalb des Bildausschnitts befinden, bevor sie den Ankömmling um seine Papiere bitte. Kropotkin, Pjotr, gibt der Pass Auskunft. Auf dem Platz vor dem Haupteingang der Uhrenfabrik in St.-Imier im Jura ist alles hergerichtet für ein Foto. Das Foto soll den nächsten Katalog der Fabrik illustrieren und damit im Kampf ­gegen die ausländische Konkurrenz unterstützen.

Drinnen in der Fabrik stellt Josephine Gräbli an ihrem Arbeitsplatz mit großer Konzentration das Werkzeug ein, um die Unruh und die dazugehörige Spirale einzusetzen. Die beiden Teile bilden das Schwingsystem, das der Taschenuhr von Gräbli die Genauigkeit verleihen soll.

Wirtschaftskrise in Europa

In den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts bilden der Jura und St.-Imier im Besonderen ein Zentrum des Anarchismus. Zeitgleich wird halb Europa von einer Wirtschaftskrise heimgesucht. Cyril Schäublins neuster Film „Unrueh“ (Unruhe) greift die Verbindung von Uhrenarbeiterinnen und Anarchismus schon im Titel auf. Schäublins Film läuft in der Sektion Encounters der Berlinale.

Unter den Arbeiterinnen der Uhrenfabrik ist der Anarchismus allgegenwärtig. In der Pause stürzen sich die Frauen auf die neusten ­Fotografien von Anarchisten aus ganz Europa. Mit Interesse bleiben sie an einem Stand der lokalen ­Anarchisten stehen, der mit einer Tombola Geld für amerikanische Genoss_innen sammelt und für eine Re­inszenierung der französischen Kommune wirbt. Zeitgleich suchen leitende Mitarbeiter der Fabrik Statisten für eine patriotische Reinszenierung der Schlacht von Murten aus dem 15. Jahrhundert. Die Anar­chisten verlosen Gutscheine für den Fotogra­fen, die Nationalisten ein Gewehr.

„Unrueh“ läuft wieder am 15. 2., 12 Uhr, Cubix 7, 18. 2., 21 Uhr, Akademie der Künste, 19. 2., 11 Uhr, Cinemaxx 6, 19. 2., 11 Uhr, Cinemaxx 7, auf der Berlinale.

„Unrueh“ ist durch ein Netz von Bildern und Gegenbildern strukturiert. Das Gegenbild zur Uhrenfabrik des Nationalrats Roulet, in dem Gräbli arbeitet, ist eine anarchistische Uhrenmanufaktur. Das Gegenbild zum sich organisierenden Anarchismus ist der Nationalismus. Innerhalb dieser Konstellation entfaltet „Unrueh“ ein komplexes Bild von den Anfängen der anarchistischen Bewegung. So genießen Anarchisten aus ganz Europa in der Schweiz relative Sicherheit, doch Arbeiterinnen, die sich den Anarchisten anschließen, verlieren in Roulets Fabrik umgehend ihren Arbeitsplatz. Die Presse der Anarchisten darf frei erscheinen, selbst Roulet preist sie gegenüber dem italie­nischen Botschafter als oft besser informiert als die bürgerliche.

Etwas verlegen diktiert ­Kropotkin im Telegrafenamt ein Fernschreiben nach Chicago, in dem er von der anarchistischen Bewegung schwärmt. Die Frau am Schalter kann sich ein Lächeln nicht verkneifen.

Telegrafie und Eisenbahn

Die Technologien der Fotografie, der Telegrafie und der Eisenbahn verbinden das Dorf im Jura mit der ganzen Welt. Diese Neuerungen bilden den Hintergrund, vor dem sich ein Kampf um die Hoheit über die Zeit entfaltet. Die Fabrik und die Kirche haben jeweils ihr eigenes Zeitsystem, das sich dem der Stadt und der Eisenbahn verweigert. Zeitfragen sind in „Unrueh“ Machtfragen.

Wie im Vorgänger „Dene wos guet geit“ arbeitete Schäublin auch bei „Unrueh“ mit Kameramann Silvan Hillmann zusammen. Die Bilder der beiden heben sich in ihrer matten Farbigkeit wohltuend vom Sepiamatsch ab, der so viele historische Filme bedeckt. Auch in „Unrueh“ halten die Bilder eine Balance zwischen Strenge und Spielerischem.

Wiederholt setzt Hillmann die Figuren des Films weit an die Ränder der Bilder. Als Kropotkin in St.-Imier ankommt, schiebt er sich am unteren Bildrand, bis zum Bauchnabel angeschnitten, vor den ­Häusern entlang; bei einem Gespräch zweier Fabrikarbeiter vor der Fabrik zeigt das Bild einen Baum in Nahaufnahme, die beiden stehen rechts davon in der Tiefe des Bildes.

Hillmanns Bilder setzen die Figuren in ein Spannungsverhältnis zu ihrer Umgebung. In weiten Einstellungsgrößen scheint die Umgebung immer wieder die Figuren zu überformen. Wie „Dene wos guet geit“ ist auch „Unrueh“ ein Film, der über den Blick aufs System die individuellen Figuren nicht vernachlässigt. Wie der Vorgänger zählt auch „Unrueh“ zum Besten, was der europäische Film aktuell zu bieten hat. Fast unnötig zu sagen, dass „Unrueh“ einer der besten Filme der diesjährigen Berlinale ist.

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