Spielfilm „Seneca“: Destruktion eines Denkers
Ein Fiebertraum von einem Film: Robert Schwentkes „Seneca“ ist eine Abrechnung mit Intellektuellen, die sich in den Dienst von Despoten stellen.
Es erinnert an die bekannten Worte „Et tu, Brute?“ nach Shakespeare, wenn Robert Schwentke seinen übel zugerichteten Titelhelden „Hast du mich nun auch im Stich gelassen?“ in die beängstigende Leere fragen lässt. Der Fragensteller heißt jedoch nicht Caesar, sondern Seneca (John Malkovich). Er erschrickt auch nicht, wie es der römische Kaiser beim Anblick seiner Mörder sein soll, als er unter ihnen mit Brutus einen geliebten Freund erkannte.
Im Gegenteil: Was Seneca erschüttert, ist, dass sich sein potenzieller Mörder (Andrew Koji) soeben entfernte. Denn das bedeutet, dass er nun endgültig allein ist, nachdem sich seine Gefolgschaft bereits von ihm abgewandt hat. Dass es wirklich niemanden mehr gibt, der seine letzten Worte vernehmen könnte. Und für einen Philosophen, jedenfalls für einen derart geltungsbedürftigen wie ihn, ist das offenbar eine grausamere Vorstellung, als Opfer eines bestialischen Meuchelmords zu werden.
Zumindest wenn es nach der Interpretation des deutschen Regisseurs und Drehbuchautors Robert Schwentke geht, der eine hämisch-spottende Destruktion des Denkers vornimmt, ihm sogar den Status als solchen in Abrede stellen will. Bis sich in „Seneca“ diese finale Absicht in all ihrer Klarheit präsentiert, ist ein Großteil der beinah zweistündigen Spielzeit aber bereits verstrichen. Bis dahin wurden widersprüchliche Gebiete eines erst gegen Ende zum Egozentrismus vereindeutigten Gemüts seziert.
Ungleich stärker noch sind die Kontraste zwischen den Stimmungen, die der elfte Spielfilm des bislang vor allem für seichtere Spektakel („Die Bestimmung“) bekannten Filmemachers durchläuft. Mit „Seneca“ hat Schwentke einen Fiebertraum von einem Film geschaffen, der nicht nur mit der Historizität des Stoffs bricht, wenn Figuren mit Sonnenbrille und E-Gitarre gezeigt werden oder im Hintergrund plötzlich Graffiti oder Strommasten zu sehen sind. Sondern auch mit Genregrenzen, teils in schwindelerregender Sprunghaftigkeit.
„Seneca“. Regie: Robert Schwentke. Mit John Malkovich, Tom Xander u. a. Deutschland/Marokko 2023, 112 Min.
Kindskaiser wird zum Tyrannen
Es beginnt als pythoneske Screwball-Komödie, wenn der anscheinend von hehren Idealen getriebene Seneca an der Geistesschwäche seines Zöglings Nero (Tom Xander), der sich selbst einfache rhetorische Ratschläge nicht merken kann, verzweifelt. So wie sich der Kindkaiser sukzessive zu dem Tyrannen entwickelt, als der er in die Geschichte eingeht, verdunkelt sich allerdings auch der Blick auf den Titelhelden.
Mehr über die neue Machtlosigkeit über Nero denn die verheerenden Zustände des in Armut und Gewalt versinkenden Roms erzürnt, führt er bittere Bühnenstücke für die gelangweilte Elite des Reichs (darunter viele deutsche Schauspieler, wie Louis Hofmann und Annika Meier) auf.
Sobald sich der Plot der modernen Interpretation von Senecas blutrünstiger Tragödie „Thyestes“ zuwendet, zeigt „Seneca“ plötzlich Anwandlungen eines düster-makabren Horrordramas – nur um dann erneut in das Komödiantische, sogar in körperlichen Slapstick zu verfallen. Ausgerechnet wenn dem Protagonisten im Beisein ebenjener „High Snobiety“ die Nachricht seines Todesurteils überbracht wird.
Nero, provoziert von besagtem Theater und entnervt von den Ratschlägen seines einstigen Mentors, lässt ihm die unbarmherzige Wahl: die Nacht nutzen, um sich selbst zu richten, oder eine grausame Hinrichtung bei Morgengrauen. Um an das Vermächtnis des großen Sokrates anzuknüpfen, entscheidet sich Seneca bekanntermaßen für die erste Variante.
Das Schwatzen des Seneca
Doch hier will die Sache nicht recht funktionieren. Wohl eher zu stolz denn zu stoisch ist Seneca, als dass sich sein Körper einfach so dem Tod übereignen ließe. Eine mal befremdliche, mal urkomische Tour de Force durch die antiken Tötungstechniken beginnt.
Und doch ist es die Fortsetzung der obigen Schlüsselsequenz, die von diesem Film bleibt, weil in ihr der Hohn auf die Spitze getrieben wird: Um die Profilierungssucht seines Protagonisten zu unterstreichen, lässt Schwentke ihn ohne Zuhörer weitersprechen. Oder besser: schwatzen. Von Lampen-Metaphern etwa, die ähnlich wie wir Menschen angezündet und nach viel zu kurzer Zeit wieder ausgelöscht würden.
Bis aus dem wohlfeilen Redeschwall endgültig ein Fächer ohnmächtiger Worte wird. In einem letzten Schritt verwehrt ihm das Skript, an dem außerdem Matthew Wilder mitarbeitete, selbst das Sterben als Stoiker. Anders als es die von Seneca vertretene Lehre vorsieht, blickt er dem Tod nicht gelassen entgegen. In einer verstörenden Szene nähert sich die lauernde Kamera von Benoît Debie („Vortex“), der hier vereinzelt ebenso überraschende Einstellungen hervorbringt wie in den Kooperationen mit Regie-Provokateur Gaspar Noé, seinem Gesicht.
Das Bild dreht sich allmählich, bis das Antlitz des auf dem nasskalten Steinboden liegenden Seneca aufrecht auf der Leinwand zu sehen ist. So, als wäre auch er gegen Ende seines Lebens das erste Mal aufrecht, wenn er von Angst stammelt, nach seiner Mutter fragt, einen stillen Schrei ausstößt und damit seine rhetorische Ritterrüstung ablegen muss. Ob es Zufall ist, dass John Malkovich in diesem Augenblick gekonnt eine Fratze mimt, die an das exaltierte Mienenspiel des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump erinnert? Wohl kaum.
Opportunismus in der zweiten Reihe
Mit dem Demagogen gleichsetzen will Schwentke den Denker, der wider die Ideale seiner eigenen Schriften zu den reichsten Männern Roms zählte, zwar nicht. Dieser Vergleich ist schon für das Riesenbaby Nero reserviert, der vielsagend wiederholt als „Mr President“ adressiert wird.
Wohl aber ist „Seneca“ eine sardonische Parabel auf die Gefahr, am Ende zu jenem zu werden, mit dem man sich umgibt. Mehr noch: eine mitleidlose Abrechnung mit dem Opportunismus der „zweiten Reihe“, den Intellektuellen hinter den Despoten, die sich in ihren Dienst stellen und so ihre Macht ermöglichen und absichern.
Dass „Seneca“ damit zuerst an Gegenwärtigem interessiert ist, ist nicht zu übersehen und verleiht einem stellenweise etwas drögen Plot eine gewisse Relevanz. Ob es dafür aber das quälende Ausmaß an Zynismus gebraucht hätte? Ironischerweise nähert sich der Film bei aller Brillanz so ebenfalls dem an, womit er sich umgibt: dem stumpf Gewaltsamen und der blasierten Selbstgefälligkeit, die er zu verurteilen sucht.
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