Spielfilm „Die kanadische Reise“: Gemeinsam in eine Richtung schauen
Alle haben sich mehr zu sagen, als sie denken: Philippe Liorets Spielfilm „Die kanadische Reise“ setzt auf das Ungreifbare.
Ein sprechender Titel, der nichts verrät. Klar ist bei Philippe Liorets „Die kanadische Reise“ erst einmal nur, dass es nicht um irgendeine, sondern um eine bestimmte Reise geht. Eine Reise nach Kanada, die für Mathieu (Pierre Deladonchamps) prägend sein wird. Eingangs ist noch alles übersichtlich: Mathieu erfährt am Telefon, dass sein Vater Jean gestorben ist, und hört zum ersten Mal von zwei Halbbrüdern. Alles andere eröffnet sich aus dem Verborgenen heraus erst nach und nach. Und bald wird deutlich, dass so manches an der Geschichte des Films in der Tat inszeniert ist und es sich mit den Wahrheiten etwas kompliziert verhält.
Mathieu fliegt aber zunächst einmal nach Kanada und sucht die Begegnung. Das funktioniert mäßig, weil die Brüder wenig liebenswerte Zeitgenossen sind. Der eine interessiert sich nur für den Nachlass, der andere vor allem für Schnaps. Der verstorbene Jean war reich und mochte die Frauen, deshalb fragt sich Mathieu bald, ob er nicht vielleicht überall auf der Welt noch unbekannte Geschwister finden wird. Aufgeklärt wird das nie.
Jean hat alle Wahrheiten mit ins Grab genommen, als er vom Fischerboot fiel und spurlos aus der lebenden Welt verschwand, abtauchte in einem See ohne Namen: „Einfach nur See“, meint Jeans Freund und Kollege Pierre (Gabriel Arcand). Und für Mathieu ergibt das Sinn: „Wie bei mir. Vater unbekannt.“ Er schaut mürrisch aufs Wasser.
Der französische Schauspieler Pierre Deladonchamps, der den Mathieu gibt, ist durch seinen enigmatischen Auftritt in Alain Guiraudies „Der Fremde am See“ in Erinnerung geblieben, der Film erntete 2013 Auszeichnungen in Cannes. Seither spielte Deladonchamps in sieben Langfilmen, die in Deutschland praktisch unsichtbar waren. Wenn er jetzt wieder einmal sichtbar wird, ist es erneut reichlich schwer, sich von seinem Spiel abzuwenden: wegen der Geschichten, die er in sich zu tragen scheint. Und wegen seiner Art, sich ganz genau umzusehen, seine Umgebung und die Menschen um ihn herum mit Bedacht und ein wenig Skepsis zu mustern.
„Die kanadische Reise“. Regie: Philippe Lioret. Mit Pierre Deladonchamps, Gabriel Arcand u. a. Frankreich 2016, 98 Min.
Ein so leiser Schauspieler braucht die Leinwand. Nur da wird es möglich, seine hintergründigen Gesichtsausdrücke zu verfolgen. Das französische Poster zeigt völlig zu Recht über die ganze Größe sein Gesicht im Querschnitt, wie er zur Seite in die Ferne aus dem Bild hinausguckt.
Alle haben sich mehr zu sagen, als sie denken
Deladonchamps erscheint hier wieder in einem Film, der sich für das Ungreifbare interessiert. In diesem Fall das Ungreifbare zwischen Menschen. Philippe Lioret baut seinen Film vor allem um die Begegnungen und Gespräche von Mathieu, Pierre und Pierres Familie. Alle haben sich mehr zu sagen, als sie denken. Das wissen sie aber noch nicht, als Mathieu anfangs in Québec aus dem Flieger steigt. Daher schauen sie immer wieder genauer hin.
Überhaupt wird viel geschaut. Zusammen schauen die Figuren mal in die gleiche Richtung, etwa bei der Szene am See. Oder da guckt ein Mensch aus dem Hintergrund einen anderen weit vorne im Bild an, für einen Moment unbemerkt. Immer wieder sind Leute zu zweit im Bild, während die Schärfe sich zwischen ihnen hin und her verlagert. Weil es zwischen den Menschen ständig unausgesprochene, diffuse Verhältnisse gibt.
Das Diffuse greift über auf die Gespräche, und bald schwirren Fragen nach familiärer und romantischer Liebe durch den Raum, nach intuitiven Verbindungen über zeitliche und örtliche Distanzen hinweg. Alle scheinen sich aus einem früheren, nie eingetretenen Leben zu kennen. Sich zersplitterte Biografien vor Augen zu führen ist in Zeiten so vieler Migrationsschicksale bestimmt nicht falsch.
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