Spiegel veröffentlicht neue Standards: Du sollst nicht lügen
Über ein Jahr nach den Enthüllungen um Claas Relotius veröffentlicht der Spiegel neue Standards. Es ist ein Bekenntnis zu journalistischen Regeln.
Nach einer Krise folgt die Aufarbeitung, im besten Fall. Beim Spiegel hieß die letzte große Krise Claas Relotius und die Aufarbeitung übernahm zunächst eine dreiköpfige Kommission, bestehend aus internen und externen Mitgliedern.
In deren im Mai letzten Jahres veröffentlichten Bericht war bereits von einem „Richtlinienpapier“ die Rede, in dem „Erzählstandards, Recherchestandards und Verifikationsregeln“ für den Spiegel neu formuliert werden sollten.
Dieses ist nun fertig und wurde am Montag allen Redakteur*innen des Hamburger Medienhauses vorgelegt und auch auf der Website des Spiegel veröffentlicht. In drei Arbeitsgruppen – genannt „die Spiegel-Werkstatt“ – diskutierten und stritten in den vergangenen Monaten rund 50 Mitarbeiter*innen des Hauses. Herausgekommen sind 74 Seiten Spiegel-Standards, verbindlich für ausnahmslos alle in Redaktion und Dokumentation.
Das neue Regelwerk des Spiegel bildet also, so kann man es also deuten, den Abschluss der Aufarbeitung um den Fälscher Claas Relotius. Es geht darin um den Umgang mit Quellen, die Frage nach der eigenen Haltung, Fehlerkultur und Sprache.
Erschreckend banal
Es ist etwas mehr als ein Jahr her, da hat der Fall Claas Relotius den Spiegel und die Medienbranche erschüttert. Relotius, der gefeierte Journalist und Reporter, wurde als Betrüger enttarnt. Damals lud der Spiegel Medienvertreter*innen zu einem Pressegespräch nach Hamburg ein, informierte über den Fall, und kündigte eine „transparente Aufarbeitung“ an. Der frühere Leiter des Gesellschaftsressorts Matthias Geyer verlies den Spiegel kurz darauf, ebenso ein Dokumentar. Und der Verlag richtete außerdem eine Ombudsstelle ein, die Hinweisen von möglichen Betrugsfällen nachgehen soll.
Vieles liest sich in dem neuen Spiegel-Standard deshalb auch wie eine direkte Antwort auf den Fall Relotius. Konkret sind das Sätze wie „Eine Geschichte muss stimmen“ oder „Es geht immer zuerst um Tatsachen, nicht um deren Überhöhung oder Interpretation“. Dass eines der wichtigsten deutschen Medienhäuser so etwas in ein Regelwerk schreibt, wirkt erschreckend banal und überflüssig, bedenkt man, dass Relotius Geschichten und Protagonst*innen tatsächlich erfand, dann ist es wieder verständlich. Insgesamt scheint das Papier teils Versicherung nach innen und nach außen zu sein: Hier gelten journalistische Standards.
Die mangelhafte Unternehmenskultur im Umgang mit Fehlern hatte einen großen Beitrag dazu geleistet, dass Relotius so lange unentdeckt bleiben konnte. Die Aufklärungskommission schrieb in ihrem Bericht vom Mai 2019, die Kritik- und Fehlerkultur sei beim Spiegel „nicht sehr ausgeprägt“.
Im Spiegel-Standard finden sich jedoch zur Fehlerkultur nur schlappe zwei Seiten. Da heißt es, dass man mit Fehlern offen umgehen und Fehlerquellen strukturell beheben wolle. „Dazu gehört eine vertrauensvolle, kommunikative Atmosphäre, in der sich Beschäftigte nicht eingeschüchtert fühlen.“ In Konferenzen soll künftig über häufige Fehlerquellen, Streitfälle, aber auch über die Abläufe und Standards der Verifikation diskutiert werden. Außerdem wird die Dokumentation wiederkehrende Fehlermuster bei Kolleg*innen überwachen und analysieren. Das heißt, in der berühmten Factchecking-Abteilung des Hauses könnten bald individuelle Fehlerprofile vieler Autor*innen hinterlegt sein.
Nicht mehr ganz so generisches Maskulin
Das neue Regelwerke ist aber nicht nur eine Antwort auf Relotius, sondern reagiert auch auf die gerade erst vollendete Fusion der Bereiche Print und Online. Unter der alten neuen Dachmarke Spiegel arbeiten seit September letzten Jahres die zuvor streng getrennten Print- und Onlinekolleg*innen zusammen. Seit Januar steht der an die neue Arbeitssituation angepasste Onlineauftritt.
Im Zuge der Fusion wurden das durch Relotius schwer beschädigte Gesellschaftsressort aufgelöst, und es wurden neue Ressorts geschaffen (das Ressort „Leben“) oder zusammengelegt. Und weil nun eben so vieles neu und anders ist, findet Chefredakteur Steffen Klusmann es „sinnvoll und notwendig, uns in dieser Form noch einmal auf unsere handwerklichen und journalistischen Grundsätze zurückzubesinnen“.
Überraschend, fast revolutionär wirkt da die Ankündigung, dass künftig im Spiegel das generische Maskulinum nicht mehr Standard sein soll. Diese Regelung in die neuen Standards aufzunehmen sei schwer gewesen, heißt es aus dem Haus. Von „Kulturkampf“ ist die Rede. Vielleicht deshalb steht da jetzt im Spiegel-Standard: „Alle streben an, in ihren Texten beide Geschlechter abzubilden“. Klingt nach Kompromiss: Streben ist anders als müssen.
Außenwirkung als Spiegel-Mitarbeiter*in
Lustig ist, dass im neuen Spiegel-Statut ein Unterpunkt „Auftritt in sozialen Netzwerken“ Kolleg*innen darauf hinweist, dass sie auf Twitter, Facebook und anderen Sozialen Netzwerken „immer als Mitarbeitende des Spiegel wahrgenommen werden, auch wenn sie unter Pseudonymen auftreten“. Wer den Hinweis „hier privat“ in seiner Biografie stehen habe, sei davor nicht geschützt.
Stefan Ottlitz, Verantwortlicher für die Produktentwicklung des Spiegels, twittert selbst unter dem Namen „@hierprivat“. In seiner Beschreibung steht: „Findet es lustig, wenn man ‚hier privat‘ in die Bio schreibt, und hat deshalb ein weises Handle.“
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