Spektakel bei der Schach-WM: Was für ein Fest!
Ian Nepomniachtchi und Ding Liren legen anders als der fehlende Titelverteidiger wenig Wert auf Kontrolle. Die Folge ist ein mitreißender Titelkampf.
W er hätte geahnt, dass das so fantastisch werden würde? Viel war vorab die Rede davon gewesen, dass dem Weltmeisterschaftsmatch zwischen Ian Nepomniachtchi und Ding Liren im Grunde die Berechtigung fehle, weil der eindeutig beste Schachspieler derzeit, Magnus Carlsen, auf eine Titelverteidigung verzichtete. Da spiele, so der Tenor, jetzt der Rest vom Fest. Das stimmt gewissermaßen auch, aber was für ein Fest das nun ist!
Von den sieben gespielten Partien endeten bisher nur zwei Unentschieden, fünfmal sah man den König fallen. Zum bereits dritten Mal ist Ian Nepomniachtchi jetzt in Führung gegangen, nachdem beim letzten Aufeinandertreffen Ding Liren in arger Zeitnot schlicht eingefroren ist. Es war der vorläufige Höhepunkt eines Matchverlaufs, den man nur als eine Nervenschlacht bezeichnen kann.
Insbesondere Ding Liren macht überhaupt keinen Hehl daraus, wie anstrengend die Situation für ihn ist: Nach seiner ersten Niederlage sprach er sehr offen von Schlafstörungen, Angstzuständen und der angespannten Nervosität, die ihn umtrieben. Als es ihm in der vierten Partie gelang, Nepo komplett einzuwickeln, bis jener gequält aufgab, wurde schon gemutmaßt, dass jetzt der Zusammenbruch Nepos dräuen könnte; schließlich war er in seinem letzten Weltmeisterschaftsmatch gegen Magnus Carlsen auch nach einer unglücklichen und unnötigen Niederlage schlechterdings kollabiert.
Aber keineswegs! Stattdessen spielte er bei ihrem nächsten Zusammentreffen seinen Kontrahenten derart vor sich her, dass wiederum jetzt endgültig alle Hoffnung für Ding Liren vergebens schien. Und so wogt seither das Match hin und her zwischen diesen beiden Spielern, die in dieser Situation offenbar gar nicht anders können, als sich die Züge um die Ohren pfeifen zu lassen. Sie spielen nicht nur mit offenem Visier, nein, sie haben beide die Helme abgenommen.
Grundverschiedene Kontrahenten
Das ist außergewöhnlich nach der Ära Carlsen, der in seinen Titelkämpfen sein Spiel auf maximale Kontrolle auslegte, um dann in langwierigen Endspielen die Stellung so lange auszupressen und zu -wringen, bis er minimalste Vorteile zu einem Sieg umgemünzt bekam. Das Match gegen Fabiano Caruana beispielsweise ging nach zwölf Unentschieden in den Tiebreak. Auch diese Art Schach hat seinen Reiz, aber spektakulärer und mitreißender ist diese Schleuderstrecke, die Ding Liren und Nepo gerade fabrizieren, allemal.
Das liegt auch daran, dass beide nicht nur auf dem Brett grundverschiedene Stärken haben. Was sie eint, ist ein gewisses Unwohlsein angesichts des Rampenlichts. Ihr Umgang aber ist von fast filmischer Gegensätzlichkeit. Während der Pressekonferenzen drückt sich Nepo, die Schultern bärbeißig nach oben gezogen, so tief es eben geht in seinen Sessel, vermutlich um sich davon abzuhalten, bei der nächsten Frage einfach aufzustehen und dem Fragesteller einfach den Kopf abzubeißen.
Währenddessen beantwortet Ding Liren selbst die abwegigsten Fragen mit einer Offenherzigkeit, die bisweilen ins kindlich Naive dreht. Wenn Fragen derart unsinnig sind, dass sie schlechterdings nicht zu beantworten sind, schaut er ganz hilflos und verlegen, es ist herzzerreißend. Ich glaube nicht, dass es aktuell noch eine*n andere*n Weltklassesportler*in derart reinen Herzens gibt.
Die Chancen stehen gut, dass es in der zweiten Hälfte so spektakulär weitergeht, weil die Zermürbung bei beiden zunehmen wird. Es gibt viel, worauf sich Schachfreund*innen die nächsten Tage freuen können, und man muss Magnus Carlsen dankbar sein, dass er durch seinen Verzicht dieses Match möglich gemacht hat. Wer weiß, am Ende wird Nepo noch ein Kings Gambit spielen, es ist nichts mehr ausgeschlossen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
James Bond
Schluss mit Empfindsamkeit und Selbstzweifeln!
Nachhaltige Elektronik
Ein blauer Engel für die faire Maus