Spannungen zwischen Algier und Paris: Algerienkrieg mit anderen Mitteln
Algerien ruft seinen Botschafter aus Frankreich zurück. Grund sind fragwürdige Äußerungen von Präsident Macron – und offene Wunden des Kolonialismus.
![Frankreichs Präsident Macron in einer Menschenmenge. Frankreichs Präsident Macron in einer Menschenmenge.](https://taz.de/picture/5140987/14/28548462-1.jpeg)
Die französische Tageszeitung Le Monde hatte am Samstag aus einem Treffen Macrons mit 18 Jugendlichen am Donnerstag zitiert. Die Jugendgruppe trifft sich seit Monaten, um über den Algerienkrieg zu sprechen, und war von Macron eingeladen worden. Ein Thema: ein Massaker an algerischen Demonstranten in Paris am 17. Oktober 1961, das unterschiedlichen Quellen zufolge mehrere Dutzend bis mehrere Hundert Tote forderte und in Frankreich ungesühnt bleibt – in wenigen Wochen steht der 60. Jahrestag davon an.
Ein 18-jähriger Teilnehmer der Runde forderte von Macron „die Wahrheit“ sowie eine „Anerkennung und Verurteilung“ dieses Massakers, dem sein eigener Großonkel zum Opfer gefallen sei. Macron, so der Zeitungsbericht, antwortete mit einer Breitseite: in Algerien erzähle man eine Geschichte, die „total neu geschrieben“ sei und „nicht auf Wahrheiten“ gründe, sondern auf einem „Diskurs, der auf dem Hass auf Frankreich basiert“.
Macron weiter: „Die algerische Nation zehrt seit 1962 von einer Erinnerung, in der es heißt: Frankreich ist das Problem.“ Als einer der Algerier in der Runde ihm widersprach, sagte Macron: „Ich spreche nicht von der algerischen Gesellschaft im Allgemeinen, sondern vom politisch-militärischen System, das sich auf dieser Erinnerungsrente errichtet hat.“ Dieses System sei heute „müde“. Außerdem müsse man fragen, ob Algerien vor der Kolonialzeit je eine Nation gewesen sei.
„Weder Entschuldigung noch Reue“
Algerien wurde 1830 französisches Staatsgebiet, in dem nur weiße Siedler Rechte innehatten. 1954 begann ein Befreiungskrieg, der über eine Million Tote forderte, mit unzähligen französischen Kriegsverbrechen einherging und 1962 mit Algeriens Unabhängigkeit und dem Exodus der Siedler nach Frankreich endete. Aus deren Reihen rekrutiert sich die französische extreme Rechte um den ehemaligen Kolonialoffizier Jean-Marie Le Pen und seine Tochter Marine Le Pen, die jede Kritik am Kolonialismus zurückweist. Algerien wird bis heute faktisch von den Generälen regiert, die aus der ehemaligen Befreiungsbewegung FLN (Nationale Befreiungsfront) hervorgingen.
Als im Januar der französische Historiker Benjamin Stora in Paris erstmals einen unabhängigen Untersuchungsbericht zum Algerienkrieg vorlegte, reagierte Macron mit der Zusage „symbolischer Akte“ zur Anerkennung von Verbrechen, aber „weder Entschuldigung noch Reue“. Algerien hingegen verlangte von Frankreich eine „offizielle Anerkennung seiner Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit“.
Macrons neue Aussagen fallen in den Kontext dieses Streits und des beginnenden Wahlkampfs zu Frankreichs Präsidentschaftswahlen im April 2022. Die große Überraschung im Vorwahlkampf ist der Aufstieg des rechtsextremen Publizisten Eric Zemmour in den Meinungsumfragen, auf Kosten anderer rechter Kandidaten. Zemmour ist jüdisch-algerischer Herkunft, hetzt gegen Muslime und verteidigt die Kolonialherrschaft. Der algerische Kommentator Brahim Takherouet warf Macron vor, in Zemmours Fahrwasser zu steuern.
Algeriens Präsidentschaft erklärte zur Begründung des Botschafterrückrufs, Frankreichs Verbrechen „dürfen nicht Objekt einer Verdrehung der Tatsachen und mildernder Interpretationen sein“. Am Sonntag schloss Algerien auch seinen Luftraum für Frankreichs Militär – darauf aber ist Frankreichs Kampfeinsatz in Mali angewiesen.
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