Späte Rückgabe: Die Taschenuhr aus dem KZ
Mehr als 80 Jahre nach dem Diebstahl durch die SS erhält die Enkelin eines griechischen KZ-Insassen das Eigentum ihres Großvaters zurück.
Es ist die Taschenuhr, die die SS ihrem Großvater gestohlen hatte, damals bei seiner Einlieferung in das Konzentrationslager Neuengamme im Mai 1944. 80 Jahre und einen Monat später hält die Enkelin Kontogeorgiou das Stück in der Hand. „Es ist unglaublich“, sagt die 38-jährige Griechin. Sie wirkt überwältigt.
Die Übergabe der Taschenuhr von Vasilios Kontogeorgiou findet am vergangenen Donnerstag im Rahmen einer Feierstunde in der Berliner Botschaft von Griechenland statt. Botschafterin Maria Marinaki spricht, dazu Direktorin Floriane Azoulay von den Arolsen Archives, auch Vertreter der Bundesrepublik sind gekommen und der Leiter der KZ-Gedenkstätte Neuengamme.
Alles wegen einer ollen Taschenuhr, könnte man meinen. Richtiger aber ist: weil das Eigentum eines KZ-Häftlings endlich wieder in die Hände der Familie zurückkehrt.
Im Widerstand gegen die Nazis
Vasilios Kontogeorgiou muss ein besonderer Mensch gewesen sein. Enkelin Angeliki erinnert sich an ihn. Er starb 1997, als sie elf Jahre alt war. Der Großvater habe immer freimütig von seiner Zeit im KZ berichtet und nichts verschwiegen.
Kontogeorgiou, bei der Besatzung Griechenlands durch deutsche Truppen ein junger Staatsanwalt im nordgriechischen Volos, hatte zusammen mit einigen Freunden eine kleine Widerstandsgruppe namens ELASOM gegründet. Sie wollten sich nicht abfinden mit dem Terror von SS und Wehrmacht.
Doch die Gruppe flog bald auf. Die vier Freunde wurden nach Deutschland deportiert. Kontogeorgiou kam zunächst nach Neuengamme, dann in das KZ-Außenlager Salzgitter-Watenstedt und schließlich nach Ravensbrück. Er überlebte als einziger seiner Gruppe. Ganze 38 Kilogramm habe er bei seiner Befreiung gewogen, berichtet die Enkelin. Bald darauf kehrte er in seine Heimat zurück.
Für Floriane Azoulay könnte die Zeremonie in der griechischen Botschaft fast schon Routine sein. Ist sie aber nicht, sagt sie. Jede Übergabe eines Erinnerungsstücks sei ein „ganz besonderes Ereignis“, sagt sie. „Die Enkel und Urenkel wollen heute wissen, was damals geschehen ist.“
Als Azoulay vor acht Jahren zur Direktorin des Archivs in Arolsen ernannt wurden, lagerten dort nicht nur 30 Millionen Dokumente über etwa 17,5 Millionen Verfolgte der Nazis. In den Beständen befanden sich auch Tausende Umschläge, darin die Asservate von KZ-Häftlingen. Ein großer Teil der „Effekten“, wie die Nazis die Gegenstände der KZ-Häftlinge nannten, stammte aus Neuengamme, einem Stadtteil von Hamburg.
Von britischen Soldaten entdeckt, seit Jahrzehnten im Archiv
Als es mit den Nazis zu Ende ging, versuchten diese die Beweisstücke für ihre Gräueltaten beiseite zu schaffen. Im KZ Neuengamme fand SS-Unterscharführer Franz Wulf auf Befehl seines Vorgesetzten einen geheimen Lagerplatz für die Tausenden Umschläge mit den Asservaten der KZ-Häftlinge, die bei ihrer Ankunft ihren persönlichen Besitz hatten abgeben müssen: Sie wurden in der Kegelbahn einer Gaststätte in Lunden verborgen, dem Heimatort von Wulf an der Nordsee.
Dort wurden sie bald darauf von britischen Soldaten entdeckt. Über Umwege landeten die Umschläge mit dem Eigentum der KZ-Häftlinge schließlich 1963 beim Internationalen Suchdienst des Roten Kreuzes in Arolsen, den späteren Arolsen Archives.
Hier beschloss Floriane Azoulay, dass die Uhren, Brillen, Brieftaschen und Eheringe nicht im Archiv bleiben sollten, sondern zurückgegeben werden müssten – an die Erben der Verfolgten. „Diese Umschläge gehören nicht den Arolsen Archives, sie gehören den Nachfahren“, sagt Azoulay in der griechischen Botschaft.
„#StolenMemory“, gestohlene Erinnerung, nennt sich die Initiative, die mithilfe von Freiwilligen recherchiert, was aus den Familien geworden ist. Oft sind nur die Namen der Verfolgten bekannt, und diese hat die SS bisweilen falsch geschrieben. Im Fall von Vasilios Kontogeorgiou war die Transkription vom Griechischen ins Deutsche fehlerhaft. Es fehlen häufig weitere Informationen wie die Heimatorte.
Mehr als 900 Gegenstände gingen seit 2016 aus dem Archiv an die Familien zurück. Aber 2.000 Asservate suchen noch ihre früheren Besitzer. Fast wie auf Fahndungsplakaten wird gesucht, auch in Griechenland. Wer weiß etwas über den Schmied Dimitris Waliadis, geboren 1919? Seine Taschenuhr, ein Ring und seine Geldbörse liegen im hessischen Arolsen. Wer kennt Evangelis Kerassotis, geboren 1925, der im Juni 1944 zusammen mit 850 weiteren Menschen in das KZ Neuengamme eingeliefert wurde? Eine Armbanduhr mit Lederband wartet auf die Nachfahren.
Der Fall von Vasilios Kontogeorgiou ist der erste aus Griechenland, der jetzt aufgeklärt werden konnte. Seine Taschenuhr kommt in gute Hände. Angeliki Nikou Kontogeorgiou wird sie wie ihren Augapfel hüten. Insgesamt sieben Fälle aus Hellas sind noch offen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin