Soziologin über junge Rechtsradikale: „Teil des Establishments sein“
Die Soziologin Janina Myrczik forscht bei 18- bis 35-Jährigen aus der AfD und der Jungen Alternative, was diese in rechtsradikalen Aktivismus treibt.
taz: Frau Myrczik, wie sprechen Sie Ihre Interviewten an? Guten Tag, ich bin Forscherin und interviewe junge Rechtsradikale, wollen Sie mitmachen?
Janina Myrczik: So konnten wir sie natürlich nicht ansprechen. Man kann sich in der Forschung auf Definitionen wie die von Cas Mudde berufen. Wer eine homogene Kultur und Nation für erstrebenswert hält, ist danach rechtsradikal. Gesellschaftlich ist der Begriff „rechtsradikal“ aber mit Springerstiefel und Bomberjacke konnotiert. Das sind nicht die Personen, die wir haben wollten und das ist stigmatisierend oder wird von denen jedenfalls so empfunden. Das Wording war daher entweder „patriotisch Denkende“ oder „Nationalkonservative“.
taz: Sie haben vor fünf Jahren angefangen, Interviews zu führen. Wie finden Sie Ihre Teilnehmenden und warum sprechen die mit Ihnen?
Myrczik: Wir wollten die ganze Landkarte der Neuen Rechten interviewen. Wir haben auch bei Youtuber:innen, rechtsextremen Plattformen und der Identitären Bewegung angefragt. Die meisten haben nicht geantwortet oder abgelehnt. Hinterhertelefonieren war nicht möglich, weil es anders als bei AfD und Junger Alternative (JA) keine Kontaktdaten gab. Die haben sich damals, 2019, häufig schon nach einer E-Mail zurückgemeldet. Dann ging es weiter im Schneeballverfahren mit Personen, die sie kannten. Wir haben viele Personen in Führungspositionen interviewt, zum Beispiel Landesvorsitzende und öffentlich präsente Personen, aber auch Aktive in Stadträten und Kreisverbänden. Dieses Jahr, als ich ergänzend mit weiteren Frauen Interviews geführt habe, war der Zugang deutlich schwieriger. Es gibt jetzt auch bei der AfD und JA weniger Bereitschaft, mit Außenstehenden in Kontakt zu treten, und es stehen auch deutlich weniger persönliche Kontaktdaten im Netz.
taz: Wie können Sie sich sicher sein, dass sie Ihnen die Wahrheit sagen?
Myrczik: Wir arbeiten mit sehr langen, biografisch narrativen Interviews, um die Geschichte zu hören, wie sie zu der Person geworden sind, die sie heute sind. Solche Interviews dauern zwischen anderthalb und vier Stunden und haben im Prinzip nur eine Hauptfrage. Erzählen Sie mir von Ihrem Leben von der Kindheit bis heute. Sie können anfangen, wo auch immer Sie mögen. Es ist in solchen Interviews schwierig, die eigene Lebensgeschichte ganz anders darzustellen.
taz: Was wollen Sie mit dieser Methode herausfinden?
Myrczik: Es ist nicht unser Ansinnen, sie zu überführen oder dazu zu bringen, sich zu rechtfertigen. Wir wollen nachvollziehen, wie es dazu kam, dass sie rechte Aktivist:innen wurden. Motive sind uns Menschen nicht immer vertraut. Wir können oft selbst nicht darauf antworten, wie wir an einen bestimmten Punkt in unserem Leben gekommen sind. Aus der sozialen Bewegungsforschung wissen wir, dass viele Faktoren zusammenspielen. Die Forschung kennt die Motive Identität, Ideologie, Instrumentalität, und die ergeben sich meist aus der Biografie. Fühlt sich jemand dahingezogen, weil er mit Gleichgesinnten zusammen sein will? Das ist das Identitätsmotiv. Möchte jemand seine gefestigten Werte verfolgen oder ist der Wunsch nach Einflussnahme das Entscheidende? Diese Motive schließen sich nicht aus, aber es gibt häufig eine Dominanz. Wir rekonstruieren, wie sie biografisch zusammengespielt haben. Deswegen fangen wir vorne an und sind sehr offen.
Jahrgang 1983, ist Soziologin und lehrt Qualitative Forschungsmethoden an der Medical School Berlin. Ihre Studie „Becoming a young radical right activist“ wurde im Frühjahr 2024 veröffentlicht.
taz: Ihre Studie untersuchte rechte Aktivist:innen in Polen und Deutschland. Sie stellen das Motiv „Karriereorientierte Selbstverwirklichung“ in Deutschland dem Motiv „Pflichterfüllung gegenüber der Nation“ in Polen gegenüber. Sind die jungen Rechten in Deutschland nur karrieregeil?
Myrczik: Sie haben den Wunsch, Teil des Establishments zu sein, sind aber gegen das Establishment, also gegen die liberale Demokratie. Sie achten auf ihre Wortwahl und äußern sich uns gegenüber nicht offen rassistisch, aber distanzieren sich auch nicht vom völkischen Flügel um Björn Höcke. Wir sehen eine Kontinuität an Werten, die sie aus ihrer Familie übernehmen und die, auch wenn sie aus der bürgerlichen Mitte stammen, anschlussfähig waren. In gefestigt rechtsextremen Familien waren es immer die Väter, die sie zu den ersten Treffen mitgenommen haben. Viele haben biografische Schwierigkeiten erlebt. Eine Herabstufung in der Schule, eine Scheidung der Eltern, abgebrochene Ausbildungen oder ein geplatzter Berufstraum. Sie waren nicht verloren, hatten noch Optionen, aber es blieb das schmerzliche Gefühl, es stehe ihnen mehr zu. Viele sind schon direkt nach der Gründung der AfD eingetreten und zu Pegida-Demos gegangen. Sie haben autoritäre Persönlichkeiten getroffen, sind zu Stammtischen gegangen und haben niedrigschwellig direkt Verantwortung bekommen. Sie durften etwas aufbauen, haben sofort eine Selbstwirksamkeit erlebt und auch schnell Ämter und bezahlte Posten bekommen.
taz: Wegen der Karrierechancen sind sie dann geblieben?
Myrczik: Mit Karriere meinen wir vor allem soziale Anerkennung in ihren Zirkeln und finanzielle Stabilität. Dabei geht es zum Teil auch um die Aufwertung der eigenen Biografie. Das ist der große Unterschied von Deutschland zu Polen, aber darum sind sie nicht eingetreten. Sie haben für sich ein Zuhause gefunden: ideologisch Gleichgesinnte und Einflussmöglichkeiten. Dazu gab es für sie keine Alternative, also keine andere Partei und auch in der Berufsbiografie nicht. Es ist nicht so, wie man das aus etablierten demokratischen Parteien kennt. Ich gehe in die Politik, um daraus Kapital zu schlagen. Das war es zu der Zeit jedenfalls nicht. Man könnte weiter beobachten, ob Karriere ein vorrangiges Motiv wird, je stärker die Strukturen der radikalen Rechten ausgebaut sind.
taz: Gibt es Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland?
Myrczik: Ja, aber nur leichte Nuancen. Die biografischen Brüche gab es teilweise schon über die Elterngeneration, auch im Westen, aber im Osten stärker. Wenn die Eltern sehr viel durch die Wiedervereinigung verloren haben, sind die Kinder unter schwierigeren Umständen groß geworden. Das war aber auch bei Arbeiterhaushalten oder schwierigen Vierteln im Westen so. Dann verknüpfte sich die eigene Biografie mit dem Narrativ „Hier läuft was falsch in der Gesellschaft – die ist ungerecht“. Und auch das Gefühl, das kennen wir aus der radikalen Rechten und aus rechtsextremistischen Milieus, dass migrantisierte Personen bevorzugt behandelt werden.
taz: Wie können Sie aus den Interviews verallgemeinernde Aussagen treffen?
Myrczik: Der Anspruch von qualitativer Forschung ist eine theoretische Verallgemeinerung und keine repräsentative Stichprobe. Wir gehen intensiv ins Material, beziehen den Forschungsstand ein, und reflektieren uns selbst und unsere Grenzen. Wir hören erst auf, wenn wir keine neuen Erkenntnisse mehr bekommen und keine anderen Personen mehr interviewen müssen. Natürlich können wir keine Aussagen über die Neue Rechte insgesamt treffen.
taz: Sie arbeiten gerade an einer Nacherhebung mit weiteren Frauen in der JA und AfD. Haben Frauen andere Motive als Männer?
Myrczik: Es gibt keine genderspezifischen Motive einzutreten, aber die Frauen waren bei Eintritt etwas älter und haben länger gezögert, wenn sie nicht auch von ihrem Vater mitgenommen wurden. Sie recherchieren intensiver, informieren sich nun auch stärker über Social Media. Nicht wegen ihrer Werte zweifeln sie, aber sie fragen sich: Was passiert mit mir, wenn ich eintrete? Kann ich in der Politik etwas verlieren? Sie gehen dann zu Stammtischen und kommen wie die Männer relativ schnell in Ämter. Mir haben Frauen gesagt, dass ihnen vermittelt wird, sie seien gerne gesehen, aber eine Frau auf vier Männer reiche.
taz: Was muss sich ändern, damit junge Menschen nicht zu AfD-Aktivist:innen werden?
Myrczik: Das ist schwierig, das haben wir nicht untersucht. Diejenigen, die schon im Aktivismus sind, holt keine Politik mehr zurück. Es ist sicher ein Bündel an Maßnahmen für alle notwendig. Die Erfahrung der Selbstwirksamkeit und der sozialen Anerkennung ist enorm wichtig. In den Schulen sollte besser vermittelt werden, was Demokratie bedeutet: Dass es nicht um eine Mehrheit geht, die über alle bestimmt, oder eine Minderheit, die sich aufdrängt, sondern dass verschiedene Interessen ausgewogen sein müssen. Viele machen die Erfahrung, dass sich ihre Ausbildung im Dienstleistungssektor nicht lohnt, dass sie weder soziale noch monetäre Anerkennung mit sich bringt. Da muss die Politik natürlich handeln, aber bitte nicht nur für diese Gruppe, sondern für alle. Wir müssen an einer gerechten Gesellschaft arbeiten, die nicht auf Rassismus beruht.
taz: Werden Sie häufig gefragt, wie es ist, Rechtsradikalen gegenüberzusitzen?
Myrczik: Die Studierenden fragen das. Es gibt auch Fachartikel dazu und wir setzen uns damit in der Forschungsgruppe auseinander. Wir hatten meistens keine Angst vor gewaltbereiten Personen, und wenn doch, haben wir das Interview auch mal zu zweit geführt. Aber wie in jedem Forschungsprozess reflektieren wir unsere eigene Position. Wir kommen selbst nicht aus dieser politischen Ecke. Mir hilft dabei die Unterscheidung zwischen Sympathie und Empathie. Ich muss ein Gefühl für die Person haben, aber ihre Haltung nicht teilen. Es ist mein professionelles Verständnis, das Gespräch aufrechtzuerhalten. Ich nicke und vermittle der Person, dass sie weitererzählen soll. Einmal kam nach einem Interview in einem Café eine migrantisierte Kellnerin an den Tisch und sagte: „Das war aber ein nettes Gespräch bei Ihnen.“ Diese Rückmeldung von außen wirft einen dann schon kurz aus der Bahn.
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