„Es gibt keinen ‚natürlichen‘ Zustand“

Die Soziologin Nina Degele beobachtet seit 20 Jahren das gesellschaftliche „Schönheitshandeln“. Warum sie Authentizität für einen unmöglichen Begriff hält und Madonna im Rollkragenpullover niemandem weiterhilft

Handicap oder Powermove? Extravagante Nägel bleiben en vogue Foto: John M. Mantel/Redux/laif

Von Katja Kullmann

wochentaz: Frau Degele, ob in der U-Bahn oder im Supermarkt, man sieht viel häufiger aufgespritzte Lippen, glatt gezurrte Mimiken, aufgemalte Augenbrauen: Die US-Essayistin Jia Tolentino spricht vom Vormarsch der „Instagram-Gesichter“.

Nina Degele: Ja, mir fällt immer auf, wenn die Inszenierungen sich ändern. Und da hat sich vieles sehr ausdifferenziert inzwischen, das ist wirklich anders als noch vor 20 Jahren.

Mit „Inszenierungen“ meinen Sie, wie Leute sich zurechtmachen, mit ihrer Kleidung oder ihren Frisuren, richtig? Können Sie Beispiele geben, was Ihnen da zurzeit auffällt?

Tattoos auf jeden Fall. Die sind jetzt so alltäglich, dass sich niemand mehr danach umdreht, am Bankschalter blitzen die Tätowierungen aus den Hemdkrägen der Angestellten. Mit der Besonderheit ist es inzwischen ohnehin schwieriger geworden – weil alles insgesamt diverser geworden ist. Es braucht heute sehr viel mehr, um optisch herauszustechen aus der sowieso schon bunten Masse.

Vor 20 Jahren haben Sie einen Begriff geschaffen, der bis heute oft zitiert wird: das „Schönheitshandeln“.

Damals setzte ich mich mit dem auseinander, was gemeinhin als das „Sich-schön-Machen“ bezeichnet wird – also mit der Tätigkeit, sich herauszuputzen oder zumindest präsentabel zu machen. Mir fiel auf, wie umständlich die Wörter sind, die dafür meist benutzt werden. Das Ziel ist die Außenwirkung, es ist immer anerkennungsorientiert, wie die Soziologie es ausdrückt.

„Impression Management“ ist eine weitere Bezeichnung dafür.

Ja, wobei dieser Begriff vom US-Soziologen Erving Goffman auch schon über ein halbes Jahrhundert alt ist. Das Schönheitshandeln geschieht nie im luftleeren Raum, sondern es ist stets ein mehr oder minder bewusster Prozess: Ich trete damit sozial in Erscheinung. Und je nachdem, wie ich in Erscheinung trete, macht das etwas mit mir und auch mit den anderen, die meine Inszenierung betrachten. Es ist ein Wechselspiel, und mit der Zeit ändern sich dann auch die allgemeinen Sehgewohnheiten.

Frisuren oder Make-up sind das eine – direkte Eingriffe in den Körper sind das andere. Die Nachfrage nach sogenannten Beauty Treatments ist mittlerweile so hoch wie nie. Werden wir Zeugen eines Siegeszugs der Künstlichkeit und wäre das so schlimm?

Als Wissenschaftlerin denke und argumentiere ich nicht in moralischen Kategorien, und den Begriff Authentizität finde ich ohnehin unmöglich. Denn der suggeriert, dass es etwas Vorsoziales gibt, einen „natürlichen“ Zustand. Als ob irgendjemand behaupten könnte: „Ich bin, was ich bin, ohne gesellschaftlich beeinflusst zu sein.“ Das ist Nonsens. Niemand kann sich von gesellschaftlichen Erwartungen frei machen. Aber: Man kann sich heraussuchen, welche gesellschaftlichen Erwartungen man bedient.

Wenn es etwa um Botox geht, sagen viele Frauen heute: „Ich tue es für mich“, nicht nur in der Werbung und in der Boulevardpresse, auch intellektuellere Frauen stimmen in diesen Chor ein.

Da wird dann viel von Selbstermächtigung geredet, von Empowerment, nicht wahr? Es klingt jedenfalls nicht so, als ob hier „Opfer“ sprächen.

Genau. Sie haben allerdings schon vor 20 Jahren die Frage gestellt: Ist das nicht eher eine Ideologie, die da durch die besonders „schön gemachten“ Menschen spricht?

Natürlich fühle ich mich besser, wenn ich nicht im Schlafanzug in der Oper sitze, sondern in einem schicken Dress. Das Ambiente, die Umgebung gibt vor, wie ich mich dort akzeptiert fühlen kann. Ich mache es „für mich“, um mich wertgeschätzt zu fühlen. Insofern ist an dieser Aussage etwas dran. Aber die Tatsache, dass in einem bestimmten Ambiente ein bestimmtes Aussehen von mir erwartet wird, damit mir das Wohlfühlen gelingt, die ist eben von außen gesetzt. Ideologietheoretisch ausgedrückt: Das ist ein gesellschaftlich „notwendiges Bewusstsein“, was da hergestellt und gefestigt wird, letztlich auch durch mein eigenes Schönheitshandeln. Die Autonomie, das Freisein als Ideal: Das ist das Erbe der Aufklärung, woran wir bis heute alles orientieren. „Dies und das ist meine freie Entscheidung“: Das ist etwas ganz Grundlegendes, so muss man sprechen, um als vollwertiges Mitglied in dieser Gesellschaft wahrgenommen zu werden.

Es handelt sich also eher um Freiheit in Unfreiheit?

In gewisser Weise ja.

Im angloamerikanischen Raum ist teilweise auch vom „visibly enhanced look“ die Rede: Schick ist, wenn man das „Gemachte“ deutlich sieht, bei Frauen wie auch bei Männern.

Da geht es einfach um die Machbarkeit, das Prinzip lautet schlicht: „Weil es geht.“ Es gibt heute technische und medizinische Möglichkeiten, die die Selbstoptimierung für alle erleichtern. Auf Verschönerungsfilter im Netz können alle zugreifen, und es wird Botox in der Mittagspause angeboten. Warum sollte ich nicht darauf zurückgreifen? Es ist eigentlich nur noch die Frage, wer sich wie viel Bearbeitung leisten kann. Insofern werden sichtbare Eingriffe zu einer Art Statussymbol: „Schau her, so und so viel habe ich in mein Aussehen investiert. Ich habe mir Mühe gegeben!“

Die britische Philosophin Heather Widdows sagt, gutes Aussehen werde gerade zu einem „ethischen Ideal“. Wer sein Gesicht und seinen Körper nicht sichtbar bearbeitet, der lässt sich gehen. „Schön“ und „fit“ wirkende Menschen verdienen in ihren Jobs tatsächlich mehr, sagen Statistiken.

Ja. Da greift das „protestantische Leitungsethos“, das der Soziologe Max Weber vor über 100 Jahren in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft ausgemacht hat. Sorgen mache ich mir dabei weniger um die Einzelnen, die so reden, als über den Mechanismus, der im Großen dahintersteht. Das ist das neoliberale FDP-Modell – übertragen aufs eigene Leben. Manche Outfits und Looks, die dabei herauskommen, gerade bei erfolgreichen Frauen, finde ich persönlich übrigens ziemlich schräg.

Zum Beispiel?

Diese ultralangen Fingernägel. Das verstehe ich überhaupt nicht, dass jemand freiwillig so rumläuft.

Aus ästhetischen oder aus politischen Gründen?

Beides, und aus praktischen Gründen auch. Ich kann das gar nicht trennen. Bei diesen ungeheuer auffälligen Nägeln an Frauenhänden denke ich zuerst mal: Die Arme ist doch völlig gehandicapt, bestimmte Handgriffe sind da doch gar nicht möglich. Dann habe ich aber eine Diskussionsveranstaltung gesehen mit erfolgreichen Business-Frauen aus den USA, da war auch Michelle Oba­ma dabei – und die hatte ebenfalls solche Krallen. Manchmal fallen die mir auch bei TV-Moderatorinnen auf. Und da denke ich immer: Hui, ich muss meinen inneren Kompass neu ausrichten. Was früher mal ein Unterschichts-Look war, zieht sich jetzt durch alle Schichten.

Eine neue „Hyperweiblichkeit“ und „Hypermännlichkeit“ macht sich breit – so nennen es manche in den Gender Studies.

Ja, je mehr diese alten hegemonialen Formen von Männlichkeit und Weiblichkeit an Bedeutung verlieren, im realen Leben, desto eher werden sie auch zu einer Maskerade. Zu einem Kostüm, einer Verkleidung, einer Show, einer beliebigen Inszenierung von sehr vielen. Androgyne Looks sind aktuell aber mindestens genauso gefragt. Das alles ist Diversifizierung – aus meiner Sicht eine sehr gute Entwicklung, für alle Geschlechter.

Einen Haken hat die Sache aber doch: Das sichtbare Altern ist und bleibt ein Tabu, und das vor allem bei Frauen, nicht wahr?

Oh ja, das stimmt. Bei Race und Gender – da geht vieles. Aber das Aging bleibt die große, bis auf Weiteres unangetastete Schwelle, zumindest bei Frauen. Bei den Oscar-Verleihungen war es zuletzt wieder ein Thema. Die großartige Michelle Yeoh, knapp über 60, erhielt einen Oscar als beste Darstellerin, auch Cate Blanchett, über 50, wurde gefeiert. Aber wie sprechen wir über diese Frauen? Dass sie „viel jünger“ aussehen, als sie dem Alter nach sind. Wenn ich Sätze höre wie „40 ist das neue 30“ denke ich immer: Warum denn? Warum soll das so sein? Es ist, als ob wir den Anblick einer alternden Frau auf jeden Fall vermeiden wollen. Man merkt es im Alltag vor allem an den Haaren.

Inwiefern?

Foto: privat

Nina Degele, 60, ist Professorin für Geschlechterforschung an der Uni Freiburg. Sie schrieb mehrere Bücher, darunter „Sich schön machen. Zur Soziologie von Geschlecht und Schönheitshandeln“.

Männer färben sich für gewöhnlich nicht unbedingt die Haare, Frauen tun es aber massenhaft, sobald sich die ersten silbernen Strähnen zeigen. Wenn eine mit Mitte 40 mit ergrauenden Haaren herumläuft – was eigentlich die normalste Sache der Welt ist –, gilt sie heute als „mutig“ oder „besonders feministisch“.

Als Madonna mit 64 bei den Grammy Awards auftrat, waren ihr heftige Beauty-Eingriffe im Gesicht deutlich anzusehen. Fans und Kritik zerrissen sich die Mäuler darüber.

Der Popstar Madonna war immer schon ein Kunstprodukt, das ist ihr Geschäft, seit eh und je. Warum sollte sie damit jetzt aufhören? Was fordert das Publikum denn von ihr? Dass sie auf einmal umschwenkt und im Kaschmirhosenanzug auftritt, mit Rollkragenpulli, in gedeckten Farben, wie es sich für eine alte Frau gehört, dem Klischeebild nach?

Umgekehrt könnte man bei manchen 30-Jährigen auf die Idee kommen: „30 ist das neue 50“. Junge Frauen, die es mit den Fillern übertreiben, wirken sehr viel älter, als sie eigentlich sind.

Die Beautyerwartungen an junge Frauen heute sind jedenfalls enorm, da stimme ich zu.

Sie sind sogar brutal. In einem Kosmetik-TV-Spot heißt es aktuell: „In deinen Zwanzigern werden die ersten Anzeichen von Hautalterung sichtbar“. Manche Praxen empfehlen, mit „präventivem“ Botox anzufangen.

Das sind uralte Mechanismen, immer wieder Rekombinationen von Altbekanntem – leider. Für die junge Frauengeneration gibt es ja eigentlich einen großen Emanzipationsgewinn, heute. Der Beauty-Druck fängt die jungen Mädchen in gewisser Weise wieder ein, schwächt ihren Selbstwert. Und damit werden Milliarden verdient. Der Gesetzgeber müsste da viel klarere, viel strengere Vorgaben machen, ab welchem Alter Eingriffe überhaupt erlaubt sind, und bearbeitete Fotos müssten gekennzeichnet werden. Aber solche Vorstöße gab es ja schon. Der Zug ist wahrscheinlich längst abgefahren. Wir können da wohl nur auf Diversität setzen – auf genügend Lücken und Nischen, ausreichend andere Vorbilder, an denen junge Männer, Frauen und andere sich auch orientieren können.