Soziologin über Misstrauen und Politik: „Der jahrelange Tiefschlaf endet“
Hat wachsendes Misstrauen gesellschaftlich sein Gutes? Darüber diskutiert in Oldenburg (und online) nun unter anderem die Soziologin Gesa Lindemann.
taz: Frau Lindemann, das Podium, auf dem Sie sitzen werden, geht von einer Atmosphäre des Misstrauens in der Gesellschaft aus. Teilen Sie diese Einschätzung?
Gesa Lindemann: Ich teile die Einschätzung, dass es ein gewisses Misstrauen in unserer Gesellschaft gibt. Dafür gibt es viele Hinweise.
Welche?
Verschiedene Bevölkerungsgruppen gehen davon aus, dass die anderen ihnen etwas Böses wollen. Man kann das auch am Beispiel der Coronamaßnahmen-Gegner fest machen: Die unterstellen der Politik, sie wolle eine Diktatur errichten und arbeite mit Wirtschaftsmächten wie Bill Gates zusammen. Das ist eine Verschwörungstheorie. Dann kann man sich fragen, wie Menschen den Regierenden so etwas unterstellen können.
Sind das alles Verschwörungsgläubige?
Das wäre zu einfach. Bei Heise.de habe ich einen interessanten Hinweis gefunden, nämlich dass Leute mehr an Verschwörungen glauben, weil es mehr Verschwörungen gibt. Das halte ich für gar nicht einmal so falsch.
66, Soziologin, promovierte 1993 in Bremen zur sozialen Konstruktion von Geschlecht. Seit 2007 ist sie Professorin an der Universität Oldenburg. 2020 veröffentlichte sie das Buch „Die Ordnung der Berührung. Staat, Gewalt und Kritik in Zeiten der Coronakrise“
Ja?
In den letzten 15 Jahren gab es zum Beispiel eine sehr enge Zusammenarbeit zwischen Verkehrsministerium und Autoindustrie. Dies war die Voraussetzung für den sogenannten Dieselskandal: Skandalös war, wie Politik und Verwaltung es den Autoherstellern ermöglicht haben, die Abgaswerte zu manipulieren. Ich finde es schwer, hier von etwas anderem zu sprechen als von einer Verschwörung zwischen Verkehrsministerium und Industrie zum Schaden der Gesundheit der Bevölkerung.
Haben Sie weitere Beispiele?
Katharina Pistor hat in ihrem Buch „Der Code des Kapitals“ aufzeigt, dass Staaten den transnationalen Unternehmen erlauben, ihre Vertragsfreiheit so zu gestalten, dass die Kosten für Krisen immer von den Bürgern übernommen werden müssen. Oder noch ein Beispiel: Der US-amerikanische Journalist Matt Taibbi hat aufgedeckt, dass es einen engen personellen Austausch zwischen dem US-Finanzministerium zur Zeit der Präsidenten Clinton und Obama und der Bank Goldman-Sachs gab. Die Bank konnte Einfluss auf Gesetzesvorhaben bzw. Regulierungen nehmen, was es der Bank ermöglichte, Krisen zu „inszenieren“, um ihre Gewinne zu steigern. So etwas sind Hinweise darauf, dass wir schlecht regiert werden, und das weckt zu Recht Misstrauen in einer Gesellschaft.
Ist es also wichtig einen kritischen Blick zu haben – und vielleicht sogar Misstrauen?
Das würde ich mir wünschen. Was mich an der gegenwärtigen Situation geradezu verzweifeln lässt, ist, dass ich auf der einen Seite sehe, dass es gute Gründe gibt, misstrauisch zu sein bezogen auf die Art, wie wir regiert werden. Und dass ich auf der anderen Seite vollkommen fassungslos bin, wie sich das Misstrauen gegenüber den regierenden Instanzen an den Coronamaßnahmen fest macht. Hier wirkt ausschließlich die unmittelbare Betroffenheit durch staatliche Maßnahmen politisierend. Dennoch hat es etwas Gutes, dass wir eine Politisierung der Gesellschaft erleben.
Nämlich?
Es wird heftig darum gestritten, wie wir unser gesellschaftliches Leben gestalten wollen. Damit endet der politische Tiefschlaf der Merkeljahre, den wir bis zur Flüchtlingskrise in Deutschland hatten und der zu gesellschaftlichem Stillstand geführt hat.
Es ist heute viel die Rede von einer Spaltung der Gesellschaft.
Ich würde nicht unbedingt sagen, dass sich die Gesellschaft gespalten hat. Wenn wir uns den vergangenen Wahlkampf in Deutschland angucken und diesen mit Wahlkämpfen der 1960er und 1970er Jahre vergleichen, dann war dies fast schon eine harmonische Atmosphäre des wechselseitigen Respekts. Eher würde ich sagen, dass wir jetzt gerade langsam in eine konfrontative Atmosphäre zurückfinden, die wir Ende der 1960er- und 1970er-Jahre hatten. Das war auch eine sehr politisierte Atmosphäre, in der es um gesellschaftlich-politische Richtungsentscheidungen ging. Gegenwärtig stehen wir wieder vor grundlegenden politischen Richtungsentscheidungen.
Diskussion „Die Hürden einer universalistischen Linken“ mit Gesa Lindemann, Susan Neiman (Philosophin, Einstein Forum Berlin) und Klaus Holz (Antisemitismusforscher, Berlin). Moderation: Felix Zimmermann: Di, 25. 11., 19 Uhr, online per Zoom.
Anmeldung: ☎ 0441/77 01 431; akademie@kirche-oldenburg.de
Welche meinen Sie?
Gelingt es den Klimawandel abzuwenden? Gelingt es, die kapitalistische Wirtschaft gut zu regulieren, um die soziale Ungleichheit zurückzunehmen? Schaffen wir es, dass gesellschaftlicher Aufstieg aus den unteren sozialen Schichten wieder möglich wird? Gelingt es, die Digitalisierung demokratisch und unter Wahrung des Datenschutzes und Achtung der Persönlichkeitsrechte zu gestalten? Hier stehen mächtige Interessen gegeneinander. Deshalb wäre es naiv zu glauben, die notwendigen Richtungsentscheidungen wären ohne harten politischen Streit möglich.
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