Soziologe über Graffiti-Kunst: „Pixação ist ein ästhetischer Übergriff“
Kurator Zmijewski gibt sich offen – doch bei der Biennale kamen Aktivisten, die sich nicht an die Spielregeln hielten. Soziologe Sergio Franco spricht über echte Gefühle.
BERLIN taz | Die Besucher eines Graffiti-Workshops im Rahmen der Berlin Biennale wurden im Juni Zeugen eines ungewöhnlichen Zwischenfalls: Nachdem einer der brasilianischen Sprüher, der „Pixadores“, die den Workshop leiten sollten, sein Kürzel an das Gemäuer der St.-Elisabeth-Kirche in der Invalidenstraße gesetzt hatte, kam es zu Auseinandersetzungen der Sprüher mit Biennale-Kurator Artur Zmijewski und der herbeigerufenen Polizei.
Im Anschluss an den Zwischenfall fand man sich im Stuhlkreis zur Aussprache zusammen. Der Soziologe Sergio Franco, der die Sprüher aus ihrer Heimat nach Berlin begleitet hatte, erklärt, warum es kaum einen besseren „Workshop“ zum Thema „Pixação“, dieser besonders radikalen Form des Graffiti aus São Paulo, hätte geben können.
taz: Herr Franco, Künstler und Kurator gehen mit Farbflaschen aufeinander los, am Ende ist der eine blau gesprenkelt, der andere trägt einen gelben Streifen auf dem Anzug: Was sich in der St.-Elisabeth-Kirche abgespielt hat, wirkte wie eine Performance zum Verhältnis von Kunst und Kunstmarkt. Ist das Publikum einer Inszenierung auf den Leim gegangen?
Sergio Franco: Es sah tatsächlich so aus, aber ich kann Ihnen versichern, dass nichts davon geplant war. Das war eine echte physische Auseinandersetzung, nur eben mit Farbe statt mit Fäusten. Hier waren echte Gefühle im Spiel. Der Zorn der Kurators über die Respektlosigkeit seiner Gäste. Und der verletzte Stolz des Künstlers.
Es ging ja alles sehr schnell. Wie kam es in Ihren Augen zu dem Zwischenfall?
Wurde 1975 geboren und studierte Soziologie an der Universität von São Paulo. Franco untersuchte in seiner Masterarbeit das Phänomen des Pixação – der Runen-Graffiti, die zeitgleich mit New Yorker Graffiti in den 1970ern in São Paulo entstanden. Derzeit forscht er über Holzschnitzereien der indigenen Völker im Nordosten Brasiliens.
In der Kirche waren Holzwände aufgestellt, die bereits im Rahmen von anderen Workshops bemalt worden waren. Die Pixadores sahen keinen Sinn darin, die Werke anderer Künstler zu übermalen. Für sie stellte das Gemäuer darüber die viel interessantere Fläche für ihre Tags dar: ein Freiraum, den es zu besetzen gilt. Zwei von ihnen kletterten sofort hoch und einer von ihnen sprühte sein Kürzel unter Protest der Biennale-Mitarbeiter dorthin.
Genau das ist Pixação: Gesprüht wird grundsätzlich da, wo es nicht erlaubt ist, selbst in einer Kirche. Als Biennale-Kurator Artur Zmijewski dann zu einem Eimer griff und einen der Sprüher mit Wasser übergoss, sprach aus ihm der Zorn des Hausherrn, dessen Eigentum beschädigt wurde. Das ist exakt der Zorn, dem die Pixadores auch auf den Straßen von São Paulo begegnen und der sie zusätzlich radikalisiert.
Die Polizei wurde gerufen, weil die Pixadores dann weiter das Kirchengemäuer besprühten. Es kam zum Handgemenge mit den Beamten. Warum eskalierte die Situation derart?
Die Wände dann weiter zu besprühen, entspricht der Logik des Pixação. Das kann man verurteilen – und es ist ja unstrittig eine Sachbeschädigung. Wissen Sie, Pixação macht man nicht einfach so, zum Zeitvertreib. Pixação ist eine Form von ästhetischem Übergriff überwiegend männlicher Jugendlicher, entstanden in den Vorstädten von São Paulo. Heute findet man die Zeichen der Gangs in vielen brasilianischen Städten. Es sind Revierbehauptungen innerhalb einer Gesellschaft, an deren wachsendem Wohlstand diese jungen Männer nicht teilhaben dürfen.
Also eignen sie sich die höchsten Punkte der Stadt symbolisch an. Sie dringen in Hochhäuser ein oder klettern in waghalsigen Aktionen an Fassaden hoch, um ihre Zeichen weithin sichtbar anzubringen. Die Generation ihrer Großväter kam als Wanderarbeiter vom Land und hat die ersten dieser Hochhäuser in den 1920ern und 1930ern mit aufgebaut. Generationen später lebt diese Schicht noch immer in den unwirtlichen Vorstädten. Die Markierungen der Pixadores sind gewissermaßen eine Reaktion auf diesen Umstand.Pixação ist die Stimme derer, die keine Stimme haben.
Dann müssten die Pixadores viele Fans in Brasilien haben. Nein, sie sind bei den Menschen verhasst. Die Medien beschimpfen sie, Passanten jagen sie fort und Polizisten knüppeln sie nieder. Weil sie so viele Feinde haben, müssen sie jeden Angriff mit einem Gegenangriff beantworten, um sich vor der eigenen Demoralisierung zu bewahren. Das ist wie im Krieg. Als die Berliner Polizisten ihre Pässe sehen wollten, dachten die Jungs, sie bekämen ihre Papiere nicht wieder – und haben sich zur Wehr gesetzt. Sie sind eben die Willkür der Polizei von São Paulo gewöhnt. Bei so vielen Missverständnissen helfen auch keine Übersetzer.
Warum sind die Pixadores nicht beliebter, immerhin schreiben Sie ihnen ja eine Art Robin-Hood-Image zu.
Ein Grund für die Ablehnung ist, dass ihre Zeichen für die Mehrheit unverständlich sind. Manchmal formulieren sie soziale Forderungen, doch selbst die sind meistens sehr verschlüsselt. Meistens hinterlassen sie einfach ihre Signaturen, die an Runen erinnern. Für sie sind die Fassaden der Stadt wie eine Tageszeitung, nach dem Motto: Wer, wo und mit wem? Wer nicht dazugehört, steht kopfschüttelnd vor diesen Zeichen.
Auch Joanna Warsza, die die Pixadores nach Berlin eingeladen hat, reagierte mit Unverständnis auf die Aktion. Auf der Straße zu malen, sagte sie, sei radikal. Das gleiche Schema in der Galerie abzuspulen, nannte sie eher einfallslos. Machen die Pixadores es sich zu einfach?
Ihre Frage spiegelt das große Missverständnis, das hier stattgefunden hat. Die Berlin Biennale forderte unter dem Titel „Forget Fear“ die Einmischung der Kunst in die Politik – ein Kunstverständnis, in das die Pixadores gut passen, weil sie soziale Ungleichheit zum Ausdruck bringen. Doch zugleich sind sie ein Produkt dieser Ungleichheit. Ihre Radikalität ist nicht konstruiert, sie ist zutiefst originär. Diese Jungs sind unter schwierigen Verhältnissen groß geworden, sie haben nicht viel Bildung genossen, einer von denen, die mit in Berlin waren, ist Semi-Analphabet. Er beherrscht vor allem das Pixação-Alphabet.
Das muss man wissen, um zu begreifen, wie weit die Unkontrollierbarkeit der Pixadores geht. Sie ist Teil ihrer Identität. Das haben sie schon auf mehreren Ausstellungen in São Paulo bewiesen, die sie gestürmt haben, um ihre Zeichen im laufenden Betrieb auf die weißen Wände zu sprühen. Insofern war dieser Vorfall fast vorherzusehen, aber offenbar haben die Kuratoren unterschätzt, wen sie sich hier eingeladen hatten. Das Vorgehen der Pixadores kann man simpel nennen, aber so sind sie eben. Sie lassen sich in keinen Käfig sperren. Es ist Ihr Wesen, die Regeln zu brechen. In meinen Augen ein spannender Beitrag zum Thema „Autonomie des Künstlers“.
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