Soziologe Heitmeyer über Autoritarismus: „Die AfD emotionalisiert Probleme“
Wilhelm Heitmeyer beschäftigt sich mit dem Reiz des Autoritären. Warum ist die AfD für viele so attraktiv? Und wie lässt sich die Demokratie schützen?
taz: Herr Heitmeyer, die extrem rechte AfD hat erstmals eine Landtagswahl gewonnen und besitzt nun in zwei Länderparlamenten eine Sperrminorität. Wie konnte das passieren?
Wilhelm Heitmeyer: Die etablierten Parteien haben im Umgang der AfD einen Kardinalfehler begangen: Anstatt sich mit ihrer Attraktivität auseinanderzusetzen, hat man sich mit Abschreckungsformeln begnügt und versucht, sie über Begriffe wie Rechtspopulismus, Rechtsextremismus, Nazipartei und Faschismus zu stellen. Diese Abschreckungsstrategie ist gescheitert. Ich bin immer völlig entgeistert, wenn in jedem zweiten Artikel noch immer die verharmlosende Rede von Rechtspopulismus ist. Aber auch, wenn Klingbeil und Wüst mit „Nazi-Partei“ um die Ecke kommen. Das wird der Attraktivität und damit auch Gefährlichkeit der AfD nicht gerecht. Es fehlt eine intensive Auseinandersetzung mit dem Neuen, was die AfD tatsächlich geschaffen hat. Deswegen definiere ich die AfD als Autoritären Nationalradikalismus. Erst dadurch lässt sich die Attraktivität und die massive Ausbreitung erklären.
ist Senior-Professor am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld, dessen Direktor er von 1996 bis 2013 war.
taz: Was ist da der Vorteil?
Heitmeyer: In dieser Kennzeichnung stecken alle Kriterien, die attraktiv sind für viele Wähler und nicht zuletzt für die junge Generation – vor allem für junge Männer, die die männlichkeitsorientierte Partei in hohem Maße gewählt haben. Das Autoritäre zielt auf das Gesellschaftsmodell, das Nationalistische transportiert Überlegenheitsvorstellungen der deutschen Kultur und Geschichte. Das Radikale zeigt sich in der aggressiven Kommunikation mit Feindbildern, die an gesellschaftlich schon lange vorhandenen Einstellungsmuster der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit anknüpfen.
taz: Bei den letzten fünf Landtagswahlen erzielte die AfD im jüngsten Wähler*innensegment um die 18 Prozent im Westen um die 30 Prozent im Osten. Warum ist die AfD derzeit besonders attraktiv für junge Menschen?
Heitmeyer: Das autoritäre Gesellschaftsmodell beinhaltet zum Beispiel die Ausschaltung von kultureller und sexueller Vielfalt. Bei jungen Männern mit einem Habitus, der oftmals auf Stärke, Dominanz und Überlegenheit ausgerichtet ist, fällt das auf fruchtbaren Boden – insbesondere, wenn ihre eigene Lebenssituation von Unterlegenheitsgefühlen durchsetzt ist. Hier setzt die AfD mit Maximilian Krah an, der auf Tiktok herausposaunt: Echte Männer sind rechts, dann klappt das auch mit der Freundin.
taz: Welche Rolle spielt die Sozialstruktur?
Heitmeyer: In Ostdeutschland kommt die sozialgeografische Struktur der AfD massiv entgegen: Kleinstädte und kleine Gemeinden zeichnen sich durch soziokulturelle Homogenität und einen hohen Konformitätsdruck aus. Ebenso gibt es viele Wegzüge an vielen Stellen – gerade von jungen Frauen, die meist ja schulisch besser qualifiziert sind als junge Männer. Zahlreiche junge Männer bleiben zurück.
taz: Inwiefern spielen DDR-Erfahrungen der Eltern und der lange Schatten der Baseballschlägerjahre eine Rolle?
Heitmeyer: Die intergenerationale Weitergabe rechter und autoritärer Positionen ist ebenfalls wichtig. Die Elterngeneration hat einiges hinter sich durch die Umbrüche von der DDR-Gesellschaft zur bundesrepublikanischen. In der DDR gab es mehr Sicherheit und weniger Freiheit. Heute gibt es mehr Freiheit und weniger Sicherheit. Letzteres beinhaltet mehr individuelle Anstrengungen und Risiken. Man hat damals nicht begriffen, wie die DDR-Gesellschaft mit ihren sozialen Netzen und Strukturen konstruiert war. Die Folgen waren leere Institutionen in den 1990er Jahren. Damals konnte der Rechtsextremismus alter Prägung zahlreiche sozialräumliche Machtversuche durchführen – durchaus mit Erfolg, wie man in den Baseballschlägerjahren sehen konnte. Das hat Nachwirkungen in den Krisenjahrzehnten seit dem Jahr 2000 bis heute.
taz: Wie groß ist denn die Rolle von Krisen?
Heitmeyer: Krisen sind dadurch gekennzeichnet, dass politische und ökonomische Instrumente nicht sofort und kostenlos funktionieren und die Sicherheit spendenden Zustände vor den Krisen sind nicht wieder herstellbar. Das zeigte sich vor allem in der systemische Corona-Krise. Daraus entstehen für Teile der Bevölkerung dann Kontrollverluste. Durch die Krisenerfahrungen kann die AfD in einem Teil der Bevölkerung Ängste vor Kontrollverlusten instrumentalisieren. Hier setzt die AfD an und posaunt: Wir stellen die Kontrolle wieder her. Wenn auch noch historische Erfahrungen von Brüchen hinzukommen, sind solche Parolen besonders fruchtbar.
taz: Haben die etablierten Parteien die ländlichen Räume vernachlässigt?
Heitmeyer: Ja, die Repräsentationslücken sind immer größer geworden. Die Bevölkerung in ländlichen und kleinstädtischen Räumen ist zu einem großen Teil gar nicht mehr wahrgenommen worden. Und wer nicht wahrgenommen wird, ist ein Nichts. Hier fruchtet dann eine weitere AfD-Parole: Wir machen euch wieder sichtbar.
taz: In digitalen Räumen führt die AfD ebenso.
Heitmeyer: Die sehr geschickte und rabiate politische Strategie gerade im Medienbereich spielt eine große Rolle. Die AfD ist die modernste Digitalpartei, die um sich herum längst eine eigene Medienwelt geschaffen hat. Die etablierten Parteien haben auch hier verpasst, der effektiven Kommunikationsstrategie etwas entgegenzusetzen. Die AfD betreibt die Emotionalisierung aller Probleme als Kontrollverluste. Dagegen ist die Wirkung mit rationalen und problemangemessenen, komplexen Argumenten deutlich geringer.
taz: Sie haben schon in den Achtzigern zur rechtsextremen Orientierungen bei Jugendlichen geforscht. Was ist heute anders als früher – mal abgesehen von Tiktok?
Heitmeyer: Identitätsprobleme, Fremdenfeindlichkeit und Gewaltorientierung finden sie heute wie damals. Damals war nur die NPD als Angebot vorhanden. Heute ist es gefährlicher durch den Autoritären Nationalradikalismus. Höcke geht zum Beispiel mit der Rhetorik vom Untergang des deutschen Volkes hausieren, um Ängste zu erzeugen. Mit dieser Untergangsrhetorik lässt sich gleichzeitig für bestimmte Gruppen aus dem rechten und neonazistischen Lager eine Notwehrsituation konstruieren, die auch Gewalt legitimiert gegen markierte Gruppen. Die AfD baut mit ihren Parolen Legitimationsbrücken für Gewalt – ohne selbst tätig zu werden.
taz: Und welche Orientierung bietet sie?
Heitmeyer: Mit ihrer rabiat ausgrenzenden Identitätspolitik. Das hat vor allem dann einen Effekt, wenn man in Krisenzeiten die Erfahrung machen muss, dass einem alles – Arbeit, Status, Wohlstand, Familie – verloren gehen kann. Eines kann einem nicht genommen werden: das Deutschsein. Die AfD nutzt Nationalismus als Identitätsanker in stürmischen Zeiten hat. Hinter diesem Kulturkampf stehen auch wirtschaftliche Erwägungen zurück, sonst könnte man das Wahlverhalten nicht erklären.
taz: Sie meinen, weil der Großteil der AfD-Wähler*innen ökonomisch gesehen gegen ihre eigenen Interessen stimmt?
Heitmeyer: Ja, bei den Wahlen in Sachsen haben 49 Prozent der Bauern AfD gewählt. In Thüringen waren es 40 Prozent – obwohl im AfD-Programm die Kürzung von Subventionen drin steht. Auch die Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung zeigen, dass die ökonomischen Vorschläge der AfD zulasten ihrer Wählerschaft gehen. Teile der AfD-Wählerschaft votieren völlig inkonsistent gegen die eigenen Interessen. Das macht es für die etablierten Parteien natürlich noch schwieriger, weil normalerweise gilt: Es muss ein konsistentes und nicht widersprüchliches Angebot da sein. Das schert aber die AfD-Wähler nicht. Das liegt meines Erachtens an der Attraktivität ausgrenzender Identitätspolitik als Kern des Kulturkampfes.
taz: Wie könnten die etablierten Parteien dem überhaupt beikommen?
Heitmeyer: Das ist natürlich die 100.000-Dollar-Frage, auf die es bekanntlich keine einfache Antworten gibt. Zuerst stellt sich für mich die Frage, ob die Politik der Schuldenbremse nicht völlig dysfunktional ist. Die Schuldenbremse funktioniert, aber die Infrastruktur ist oder geht kaputt – und das wird für die zukünftigen Generationen politisch und ökonomisch noch sehr viel teurer. Durch die Aufhebung der Schuldenbremse und die daraus sich ergebenden Investitionschancen könnte auch ein zuversichtliches gesellschaftliches Klima erzeugt werden: Hier passiert was.
taz: Wie sollte man mit Repräsentationslücken umgehen?
Heitmeyer: Die müsste die Politik schließen und sich fragen, ob sie Bürger und deren Probleme eigentlich noch ausreichend wahrnimmt. Es bleibt die Frage, ob etablierte Parteien an vielen Stellen nicht zu spät kommen. Ein wichtiger Punkt ist auch die soziale Ungleichheit. Über Ungleichheitserfahrungen werden immer wieder Vergleiche mit anderen Bevölkerungsgruppen angestellt. Daraus entsteht ein Gefühl der Deprivation, also Gefühle von Benachteiligungen oder Ungerechtigkeiten, die ganz rabiate Einstellungen wie gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit begünstigen, wie wir in unserer Langzeitstudie herausgearbeitet haben.
taz: Was müsste noch getan werden?
Heitmeyer: Ganz zentral ist es, die gesellschaftlichen und staatlichen Institutionen zu stärken. Das zentrale Ziel der AfD ist ein Systemwechsel von innen. Sie will explizit in gesellschaftliche und staatliche Institutionen wie Justiz, Medien und Kultureinrichtungen, aber auch in die Bildung, um die Schulen unter Druck zu setzen. Es geht um Destabilisierung zur autoritären Veränderung. Es ist wichtig, dass Menschen in den Institutionen sehr viel konfliktfähiger agieren, um eine weitere Ausbreitung und Normalisierung zu verhindern.
taz: Welche Rolle kommt der Zivilgesellschaft zu?
Heitmeyer: Sie ist sehr wichtig, wobei die großen Demonstrationen bedeutsam sind, aber auch den Haken haben, dass man dort unter sich ist und die Frequenz sich nicht lange aufrechterhalten lässt. Wichtig wäre es deshalb, sich stark zu machen in den nahen sozialen Bezugsgruppen. In der Verwandtschaft, im Freundeskreis, in der Familie, dem Sportverein. Man sollte bei aufkommenden Hetzsprüchen sofort einschreiten, um wenigstens die Normalisierung zu verhindern. Es bleibt die Frage, ob wir dafür eigentlich konfliktfähig genug sind. Die möglichen harten sozialen Kosten können auch ein Ausschluss aus den sozialen Bezugsgruppen sein. Aber insgesamt gibt es keinen Königsweg.
taz: Aber das sind ja schon mal Ansätze.
Heitmeyer: Die Gesellschaft und die Probleme sind kompliziert. Jeder und jede weiß das. Man kann leider nicht einfach einen Schalter umwerfen. Politische Sozialisationsprozesse verfestigen sich und haben Folgen. Die Aufgabe der Politik wäre es vor allem, in der politischen Debatte Alternativen zur Attraktivität des Autoritären zu bieten. Es fehlt eine zuversichtliche Vision. Es braucht eine verbindende Philosophie und Erzählung über die weitere gesellschaftliche Entwicklung. Fatal ist, dass die AfD eine ganz klare Vision hat: Sie will einen Autoritären Nationalradikalismus durchsetzen. Dagegen muss man sich natürlich in Stellung bringen. Das würde uns sonst schlecht bekommen.
taz: Nach dem AfD-Eklat bei der Konstituierung im Thüringer Landtag werden wieder Verbotsforderungen laut. Sie haben sich in einem Beitrag mit dem Titel „Dilemma des Demokratieschutzes“ gegen ein Verbot ausgesprochen. Aber wäre vor einem Verbot nicht vielleicht ein Zwischenschritt zielführender – wie etwa die Streichung von Finanzmitteln? Die AfD bekam zuletzt 10,2 Millionen Euro aus der Parteienförderung. Warum sollte der Staat seine eigene Abschaffung finanzieren?
Heitmeyer: Ich bin da grundsätzlich skeptisch. Die Verlagerung gesellschaftlicher und politischer Probleme wie autoritärer Einstellungen in einen juristischen Vorgang erzeugt unbeabsichtigte Nebenfolgen. Die Parteien und die Bevölkerung sind aus dem Klärungsprozess raus, wohin sich diese Gesellschaft entwickeln soll. Im Ergebnis würde es weiter gehen wie bisher. Und der Erfolg eines Antrages vor dem Verfassungsgericht ist unsicher. Wäre er erfolgreich, sind massive Radikalisierungen außerhalb des Parteiensystems nicht ausgeschlossen. Bei einem Misserfolg hätte die AfD eine erhöhte demokratische Legitimation.
taz: Was ist die Alternative?
Heitmeyer: Die politische Auseinandersetzung. Natürlich bringt auch der politische Weg durchaus Probleme mit sich. Bei Demonstrationen gibt es unsichere Wirkungseffekte. Steffen Mau schlägt als neue partizipative Möglichkeit Bürgerräte vor, um aus der Lethargie zu kommen, aber natürlich bleiben Repräsentationslücken schwer zu schließen. Erschwerend hinzu kommen mittlerweile die institutionellen Machtoptionen der AfD wie die Sperrminorität.
taz: Welche Rolle spielt die Debatte um Migration?
Heitmeyer: Die Migrationspolitik beinhaltet erhebliche autoritäre Treibsätze. Sie kann unter bestimmten Vorzeichen bei Verunsicherten oder Personen mit menschenfeindlichen Einstellungen eine zusätzliche autoritäre Stimulation bedeuten. Gauland nannte die großen Geflüchtetenzahlen 2015 mal ein „Geschenk des Himmels“. Die AfD heizt das Thema in immer neuen Varianten in Verbindung mit Kriminalität auf. Die CDU macht mit, speziell nach den Morden von Solingen. Auch die anderen passen sich an. Das ist politisch risikoreich. Zumal die Wählerschaft der AfD sagen kann: Wir stehen auf der richtigen Seite.
taz: Die AfD profitiert derzeit von einem perfekten Sturm: Die CDU macht rechten Kulturkampf und basht die Grünen, die Ampel blockiert sich selbst und hat nie dagewesene Unbeliebtheitswerte.
Heitmeyer: Bei der generellen Erklärung für die Ausweitung der AfD kann man nicht immer nur kurzfristige Trigger anführen. Nach dem Motto: Das ist alles nur Ampelpolitik. Allerdings muss man sagen, dass das Heizungsgesetz durchaus ein Trigger war. Aber das gilt auch für Versäumnisse in der Migrationspolitik. Man hätte sich etwa viel früher klarer Zusammenhänge zwischen Migration und islamistischen Einstellungen stellen müssen. Ich habe Mitte der 90er eine Untersuchung zu islamistischen Einstellungen unter türkischen Jugendlichen gemacht und bin dafür massiv angefeindet worden. Ich sei ein Kulturrassist und so weiter. Dabei war es angesichts der Ergebnisse unbedingt notwendig darauf hinzuweisen, dass wir Integrationsangebote und das hieß vor allem die Möglichkeiten für Anerkennung ausweiten müssten, weil wir sonst Probleme mit islamistischen Aktivitäten bekommen würden.
taz: Ein differenziertes Bild ist immer von Vorteil. Aber bei den aktuellen Debatten fällt doch sehr auf, dass Fakten und Differenzierung eher eine untergeordnete Rolle spielen, wenn es um härtest mögliche Maßnahmen wie Grenzschließungen, den Entzug von Sozialleistungen und Einführungen von Sachleistungen für Asylbewerber geht, um AfD-Wähler zu befriedigen. Im Brandenburger Wahlkampf ging es um Migration, die Wähler*innen schätzten laut Umfragen die Probleme soziale Sicherheit, Infrastruktur und Bildung als am wichtigsten ein. Sollten diese Themen nicht vor allem den Diskurs bestimmen?
Heitmeyer: Da bin ich völlig ihrer Meinung, aber gegen die Emotionalisierung kommt man kaum an. Gerade die Frage nach der sozialen und sonstigen Infrastruktur spielt eine Rolle. Man muss sich neue Konzepte – auch mithilfe einer aufgelösten Schuldenbremse – überlegen auch für ländliche Gebiete: Die Ansiedlung von Läden, Busunternehmen und Ärzte sollte man beispielsweise subventionieren, weil sich das sonst in bevölkerungsarmen Gebieten nicht rechnet. Der Staat müsste Überlegungen anstellen, um den Grundgesetzauftrag der gleichen Lebensverhältnisse zumindest ansatzweise wieder herzustellen. Stattdessen drängt sich der Eindruck auf, das ganze Landstriche politisch, ökonomisch und infrastrukturell klammheimlich abgeschrieben werden.
taz: Hätten Sie vor elf Jahren gedacht, dass sich im deutschen Parteiensystem noch einmal eine feste autoritäre Kraft mit dem Potential zum Umbau der BRD-Demokratie etablieren würde?
Heitmeyer: Selbstverständlich habe ich mir nicht die Entwicklung der AfD vorstellen können. Aber in der Langzeitstudie zu deutschen Zuständen zwischen 2002 und 2012 zeichneten sich die politischen Potentiale in den autoritären Einstellungen von Teilen der Bevölkerung ab. Sie hatten damals nur noch keine parteipolitische Anschlussstelle.
taz: Welche langfristigen Bedingungen haben das begünstigt?
Heitmeyer: Ich habe ja schon 2001 in dem Buch „Schattenseiten der Globalisierung“ vor negativen langfristigen Entwicklungen gewarnt. Ende der 1990er Jahre hatte die rigorose neoliberale Wirtschaftspolitik mit ihren Deregulierungen zu einem autoritären Kapitalismus mit großen Kontrollgewinnen geführt. Die nationalstaatliche Politik hatte dagegen Kontrollverluste und keinen Willen oder keine Kraft, gegen die wachsende Ungleichheit vorzugehen. Als Folgen zeichneten sich soziale Desintegrationsprozesse ab. Und auch das, was ich Demokratieentleerung genannt habe: der Apparat funktioniert, aber das Vertrauen erodiert.
Meine These war damals: Wenn das Zusammenwirken zwischen diesen ökonomischen, sozialen und politischen Prozessen nicht durchgreifend verändert wird, werden wir eine massive Rechtsentwicklung bekommen. Also, die heutigen Prozesse haben schon seit den 2000er Jahren massiv angefangen und wurde dann durch entsicherte Krisen in den Jahrzehnten danach auf Touren gebracht. Das sind langfristige Entwicklungen. Der berühmte Soziologe Ralf Dahrendorf hat schon 1997 gesagt: Wir stehen wahrscheinlich vor einem neuen autoritären Jahrhundert.
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