Sozialwissenschaftler über Zusammenhalt: „Die Leute vertrauen nicht mehr so“
Beim sozialen Zusammenhalt gehörte Bremen zur Spitzengruppe. Doch noch vor Corona kam ein krasser Absturz, so Studienautor Klaus Boehnke im Interview.
taz: Herr Boehnke, muss ich mein Bremen-Bild umwerfen?
Was haben Sie denn für eines?
Ich habe Menschen von außerhalb schon ganz oft aus Studien zitiert, dass nirgendwo der Zusammenhalt größer ist als in Bremen. Und jetzt stimmt das nicht mehr, laut Ihrer Studie.
Als wir 2017 unsere erste deutschlandweite Studie zum gesellschaftlichen Zusammenhalt gemacht haben, lag Bremen jedenfalls im vorderen Feld. Aber bis 2020 ist der Zusammenhalt tatsächlich runtergegangen auf den letzten Platz unter allen Bundesländern.
Sie untersuchen gesellschaftlichen Zusammenhalt anhand von neun Dimensionen. An welchen Fragen hapert's denn bei Bremen?
Die Leute haben offenbar nicht mehr so intakte soziale Beziehungen und vertrauen auch den Mitmenschen nicht mehr so wie vorher. Das sind die beiden Einzeldimensionen, in denen sich Bremen von den anderen Bundesländern jetzt signifikant unterscheidet. Bei den Fragen nach sozialen Netzen sind die Werte in der Befragung um 14 Prozentpunkte runter gegangen.
Das Erstaunliche für mich war zusätzlich, dass dieses Absacken vor allem zwischen 2017 und 2020 passiert ist.
Das ist auch das, was uns sehr überrascht hat. Bremen macht diesen Schritt als einziges Bundesland – so rutscht es im Ländervergleich massiv ab. Von Platz vier oder fünf auf den letzten. Während der Coronazeit ist der Zusammenhalt bundesweit runter gegangen, aber trotzdem liegt Bremen auch in der aktuellen Erhebung von 2023 auf dem vorletzten Platz, nur noch Sachsen-Anhalt ist dahinter. Das ist alarmierend für uns.
Was war denn da los, zwischen 2017 und 2020?
73, ist Professor für Sozialwissenschaftliche Methodenlehre und Psychologie an der Constructor University Bremen (ehemals Jacobs University). Die Studie „Gesellschaftlicher Zusammenhalt in Deutschland 2023“ entstand in Zusammenarbeit mit der Bertelsmann Stiftung.
Als Statistikskeptiker, der ich sein muss, bin ich immer vorsichtig: Bremen hat natürlich relativ wenig Befragte…
Also einfach ein methodischer Messfehler? Vielleicht eine verzerrte Auswahl?
Nein, ein Messfehler kann es nicht sein. Aber natürlich ist hier die Fehlermarge größer: Wenn wir in Nordrhein-Westfalen 450 Menschen befragt haben, sind das in Bremen vielleicht 40 oder 60. Damit eine Veränderung auch wirklich bedeutsam erscheint, muss sie hier deutlich größer sein. Ein Abrutschen von Platz vier auf Platz sieben wäre deshalb statistisch völlig irrelevant. Aber ein Abrutschen von einem der vorderen Plätze auf Platz 16, das ist keineswegs irrelevant. Das ist über diese Fehlermarge erhaben.
Ok. Was kommt dann als Erklärung in Frage?
Es gab unseres Wissens nach keine großen Einschnitte, keine einzelne Pleite oder Ähnliches, die das erklären kann. Verlässliche Aussagen kann ich zu der Frage nach dem Warum noch nicht machen. Um es wirklich rauszubekommen, muss jetzt erst eine neue Studie stattfinden. Ich bin aktuell noch auf der Suche nach Geldgebern.
Wer könnte das sein? Wer könnte Interesse daran haben, das genauer herauszufinden?
Hauptsächlich fallen mir die großen Wohnungsanbieter ein. Die haben 2016 schon mal eine Bremenstudie zum gesellschaftlichen Zusammenhalt mitfinanziert. Aber das war noch vor dem Einbruch in den Zahlen.
Haben Sie denn schon eine Vermutung? Nach was genau wollen Sie in der nächsten Studie suchen?
Wir haben jetzt in der neuesten Studie herausgefunden, dass es insbesondere in den Bereichen gut um den sozialen Zusammenhalt bestellt ist, wo moderne Dienstleistungsgesellschaften existieren. Dort, wo alte Industrien das Bild bestimmen, ist der soziale Zusammenhalt schlechter. Das zeigt sich erst mal unabhängig davon, ob die Industrien noch wirtschaftlich Mehrwert schaffen und funktionieren. Wir müssten für Bremen untersuchen, ob an Standorten, wo sterbende Industrien vorherrschen, weniger Zusammenhalt gibt, als in Gegenden, wo jetzt neue Start ups oder Ähnliches vorherrschen.
Das wären ja schlechte Nachrichten. Muss Bremen dann also seine Flugzeug- und Autowerke schließen lassen? Oder gibt es noch andere Möglichkeiten, um den Zusammenhalt wieder herzustellen?
Wandel vollzieht sich in Generationen – und eigentlich nicht in Jahren. Was die Menschen kurzfristig zusammenbringt, ist tatsächliche Interaktion zwischen Personen. Also so was wie Nachbarschaftsfeste – das ist vielleicht ein plattes Beispiel, aber gar kein so schlechtes.
Ich bin immer noch auf der Suche nach einer Erklärung. Kann man irgendwelche regionalen Vergleiche ziehen, zum Beispiel mit Hamburg?
Zu Bremens Leidwesen: In Hamburg gibt es einen vergleichbaren Abwärtstrend nicht, obwohl die Stichproben dort nicht wesentlich größer waren.
In einem Punkt ist Bremen immer noch führend: Bei der Toleranz nämlich. Nirgendwo gibt es eine höhere Akzeptanz für abweichende Lebensstile, Bremen erreicht einen Wert von 86 Prozent – nur Berlin liegt gleich auf. Tolerant, aber schlechter Zusammenhalt – ist das nicht ein Widerspruch?
Es ist eine Ergänzung. Es zeigt, dass es gut ist, dass wir den gesellschaftlichen Zusammenhalt nicht über eine, sondern über neun Dimensionen ermitteln. Bremen ist eine Stadt, die darauf angewiesen ist, mit anderen Handel und Wandel zu treiben, sie hat seit Jahrhunderten eine weltoffene Tradition. Aber dieses politische Klima fließt ja auch in unsere Untersuchung ein – es kann eben nur nicht alles andere auffangen.
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