„Arbeitsplätze dürfen nicht kaputt machen“

Weil weniger ältere Menschen im Beruf bleiben, wird über das Renteneintrittsalter diskutiert. Dabei gerät vieles durcheinander, kritisiert Sozialexperte Florian Blank

Im Homeoffice für die Elektronik-Werkstatt: Gute Arbeitsbedingungen sind das A und O für Erwerbstätigkeit im Alter    Foto: Panama Pictures/imago

Interview Tatjana Söding

taz: Herr Blank, neue Zahlen des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB) zeigen, dass weniger Menschen im höheren Alter im Beruf bleiben. Das hat eine Debatte über das Renteneintrittsalter ausgelöst.

Florian Blank: Die Daten bestätigen erst einmal den Trend des letzten Jahrzehnts, dass die Erwerbstätigkeit älterer Menschen deutlich zugenommen hat. Gleichzeitig zeigen sie, dass diese Erwerbstätigkeit aktuell nicht mehr so stark ansteigt – in der Pressemitteilung wurde das als Stillstand beschrieben. Allerdings wurden die Coronajahre 2020 und 2021 auch in die Auswertung einbezogen: Da die Pandemie ein externer Schock war, ist nicht sicher, ob es sich wirklich um eine Stagnation handelt oder lediglich um eine Schwächung oder kurze Unterbrechung des Aufwärtstrends.

Wie kam es zu dem Trend, dass ältere Menschen länger arbeiten?

Noch in der Nachwendezeit wurde mittels Frühverrentung versucht, Arbeitslosigkeit zu bekämpfen oder unsichtbar zu machen. Später erst kamen Regelungen, die auf ein längeres Erwerbsleben abzielen. Nun steigt das Renteneintrittsalter stetig an und Menschen arbeiten tatsächlich länger. Außerdem haben ältere Menschen aufgrund einer höheren Nachfrage nach Arbeitskraft heute bessere Chancen, länger im Beruf zu bleiben. Wir wissen aber auch, dass gerade Ältere oft keinen Berufseinstieg mehr schaffen, wenn sie arbeitslos werden. Es gibt viele Fälle von Menschen, die aus der Arbeitslosigkeit in die Rente wechseln.

Ist es also irreführend, jetzt über ein höheres Renteneintrittsalter zu diskutieren?

Natürlich sind die Themen Erwerbstätigkeit von älteren Menschen und Rente eng miteinander verbunden, aber trotzdem unabhängig voneinander zu behandeln. Die vom BiB ausgewerteten Zahlen berichten erst einmal nur über Erwerbstätigkeit, nicht aber darüber, ob Menschen, die zu arbeiten aufhören, direkt in die Rente gehen, erst mal arbeitslos sind oder auf die Enkel aufpassen, was ja auch eine Art der Arbeit ist. Mich ärgert es, dass wir so schnell über die Rente und die Finanzierung des Sozialsystems reden, anstatt darüber, wie wir Menschen darin unterstützen können, möglichst lange arbeitsfähig zu bleiben. Was können Arbeitgeber tun, um Menschen länger im Betrieb zu halten, wie müssten der Gesundheitsschutz und die Weiterbildungsmöglichkeiten reformiert werden? Die Forschung zeigt ja, dass der Ausstieg aus dem Erwerbsleben ganz stark mit den Arbeitsbedingungen verbunden ist.

Warum ist die Sorge so groß, dass das Renteneintrittsalter in Deutschland zu niedrig liegt?

Es gibt verschiedene Stellschrauben, um das Rentensystem in Einklang zu bringen: Man kann über den Beitragssatz, die Leistungshöhe und den Renteneintritt nachjustieren. Die Ampelkoalition hat festgelegt, den Beitragssatz in dieser Legislaturperiode nicht über 20 Prozent ansteigen zu lassen – das sollten sie vermutlich auch erreichen. Das Rentenniveau soll über 2025 hinaus stabilisiert werden. Und das Renteneintrittsalter soll nicht länger angehoben werden. Vielen in der Wissenschaft und Politik ist das ein Dorn im Auge: Sie fordern, dass wir länger arbeiten sollten, weil wir heutzutage auch länger leben. Sonst, so die Logik, könnte ein „tragbares“ Verhältnis zwischen Bei­trags­zah­le­r:in­nen und Ren­te­r:in­nen nicht mehr aufrechterhalten werden und das Rentensystem würde kollabieren.

Und ist da was dran?

Was häufig in der Debatte ausgeblendet wird, ist, dass die „Tragbarkeit“ oder „Bezahlbarkeit“ des Rentensystems politische Begriffe sind. Denn eigentlich geht es doch darum, was wir uns als Gesellschaft leisten wollen. Rein technisch betrachtet ist es nützlich für das Rentensystem, wenn die Menschen länger arbeiten. Es gibt aber keinen Sachzwang, das Rentenalter beispielsweise auf 70 Jahre anzuheben. Eine Ausweitung sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung kann ebenfalls die Einnahmen der Sozialversicherung erhöhen. Wir könnten die gewonnenen Jahre auch für längere Bildungszeiten oder Familienphasen nutzen. Und dass der Ruhestand wirklich ruhig ist, ist doch auch ein Klischee: Viele Menschen arbeiten bei der Betreuung der Enkel oder in sozialen und politischen Ämtern weiter.

Der Vorsitzende der FDP-Bundestagsfraktion, Christian Dürr, wünscht sich ein „flexibles Renteneintrittsalter“. Ermöglicht Flexibilisierung wirklich mehr Freiheit?

Ich sehe die Forderung der FDP nach mehr Flexibilität eher als Versuch, das System so zu verändern, dass mehr Arbeitskräfte verfügbar sind. Das aktuelle Rentensystem gibt Menschen bereits verschiedene Möglichkeiten, um die Bedingungen ihres Renteneintritts zu bestimmen und auch länger zu arbeiten, wenn sie können und wollen.

Wie zum Beispiel?

Erstens gibt es die Altersrente, die ab einer gewissen Altersgrenze bezogen werden kann – gerade liegt sie bei 65 Jahren und elf Monaten. Dann die Rente für langjährig Versicherte, die man ab einem Alter von 63 Jahren und nach 35 Versicherungsjahren mit Abschlägen beziehen darf. Dafür müssen es sich die Menschen aber leisten können, auf einen Teil ihrer Rente dauerhaft zu verzichten. Drittens gibt es die Rente für besonders langjährig Versicherte: Nach 45 Versicherungsjahren können Menschen aktuell mit 64 zu arbeiten aufhören.

Foto: Karsten Schöne

Florian Blank arbeitet im Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung in Düsseldorf zu Fragen der sozialen Sicherung.

Ab einem gewissen Alter ist aber Schluss?

Nein, es gibt kein Gesetz, das den Menschen verwehrt, länger zu arbeiten. Nachdem sie die Regelaltersgrenze erreicht haben, können sie sowohl ihre Rente beziehen als auch arbeiten und unbegrenzt dazuverdienen. Auch bei den vorgezogenen Altersrenten sollen die Hinzuverdienstgrenzen wegfallen. Sollten Menschen sogar ihren Renteneintritt nach hinten verschieben, werden sie durch Aufschläge belohnt. Insgesamt bietet unser Rentensystem also sehr viel Flexibilität.

Was wären sinnvolle Maßnahmen, um Menschen länger im Beruf zu halten?

Wir müssen über die Gestaltung von Arbeit sprechen. Arbeitsplätze sollten nicht kaputt machen, Menschen müssten beispielsweise frühzeitig aus der Schichtarbeit genommen werden können. Und wir sollten auch an die Arbeitgeber appellieren, das Potenzial, das in älteren Menschen steckt, zu nutzen.

Durch den demografischen Wandel verschiebt sich das Verhältnis zwischen Ren­te­r:in­nen und Beitragszahlenden. Gibt es eine Alternative zum längeren Arbeiten, um das Rentensystem zu finanzieren?

Grundsätzlich sollte die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung gestärkt werden. Darüber hinaus muss vor allem gefragt werden, wer genau die Lasten tragen soll. Häufig wird argumentiert, dass ein Anstieg der Beiträge als Teil der Lohnnebenkosten dazu führt, dass Arbeitskraft in Deutschland zu teuer wird und damit weniger Neueinstellungen möglich sind. So einfach ist das aber nicht. Viele Arbeitgeber haben Spielräume. Und volkswirtschaftlich gesehen können höhere Rentenausgaben die Nachfrage stärken. Es gibt eine ganze Reihe von Unwägbarkeiten, die sich in manchen ökonomischen Rechnungen nicht niederschlagen. Häufig werden auch die Potenziale des Arbeitsmarkts vernachlässigt. Stattdessen reden wir immer wieder über das Renteneintrittsalter. Das ist doch verkürzt.