MIT SANIERUNGSKOSTEN AUF DU UND DU: Soziale Not in Nicaragua
■ Sanierungsprogramm der Regierung fordert hohe Opfer
Managua (dpa) — Eine tiefe Wirtschaftskrise und die sozialen Auswirkungen einschneidender Anpassungsmaßnahmen haben den mittelamerikanischen Staat Nicaragua zum zweitärmsten Land auf dem amerikanischen Kontinent gemacht. Nur in Honduras sind die Lebensbedingungen noch schlechter als im Land der ehemaligen sandinistischen Revolution. Nach Angaben des Wirtschaftsministeriums sind derzeit etwa eine halbe Million Nicaraguaner — ein Viertel der Gesamtbevölkerung — arbeitslos.
Die Löhne haben seit fast einem Jahr 32 Prozent ihrer Kaufkraft verloren. Die hohe Arbeitslosigkeit ist eine Folge der Privatisierung von 350 Unternehmen, die der früheren sandinistischen Regierung gehörten, der Reduzierung der Streitkräfte um 70.000 Mann und einer Entlassungswelle beim Staatsapparat. Dazu kommen rund 20.000 arbeitslose ehemalige Contra-Rebellen nebst ihren Familien, die früher von den USA unterstützt wurden. Außerdem sind über 60.000 Flüchtlinge ins Land zurückgekehrt, von denen die meisten auf der Straße sitzen.
Positiv schlägt allerdings zu Buche, daß es der konservativen Regierung von Präsidentin Violeta Chamorro dank ihres straffen Sanierungsplans in etwas mehr als zwei Jahren gelungen ist, die Inflation von jährlich 55.000 Prozent unmittelbar nach dem Machtwechsel im Frühsommer 1990 auf nur 1,7 Prozent in der ersten Hälfte dieses Jahres zu reduzieren, was einer Jahresrate von 3,4 Prozent entspräche. Dies ist vor allem der Währungsreform vom 1. März 1991 zu verdanken, die den alten Cordoba durch den neuen auf ein Viertel abgewerteten Goldcordoba ersetzte. Der strikt an den Dollar gekoppelte Goldcordoba wird massiv durch internationale Hilfe gestützt.
Dieser Erfolg ist bisher jedoch nicht in besseren Lebensbedingungen für die Mehrheit der Bevölkerung zum Ausdruck gekommen. Es wird deshalb befürchtet, die Regierung werde kurzfristig Probleme haben, um die soziale Stabilität im Lande zu wahren. Eine wachsende Zahl Minderjähriger versucht durch Straßenarbeit zum Lebensunterhalt ihrer Familien beizutragen. An den Ampeln in den Straßen Managuas versuchen Hunderte von Kindern, alles mögliche zu verkaufen, und immer mehr Frauen und minderjährige Mädchen sind zur Prostitution gezwungen. Diebstähle und Überfälle in Bussen und Taxis stehen auf der Tagesordnung.
Wirtschaftsminister Julio Cardenas hat zwar zugegeben, daß der soziale Preis des Sanierungsprogrammes hoch sei. In gesamtwirtschaftlicher Hinsicht hätte seine Politik aber die drastische Reduzierung der Inflation ermöglicht und zu einem ausgeglichenen Haushalt geführt.
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