Sozialarbeiter über Wohnungslosigkeit: „Es geht auch anders“
27 Jahre war Stephan Karrenbauer Sozialarbeiter beim Hamburger Obdachlosenprojekt „Hinz&Kunzt“. In dieser Zeit hat er viel gelernt.
taz am wochenende: Stephan Karrenbauer, ist die Arbeit für Obdachlose so fordernd, dass man sie nicht ein Leben lang machen kann?
Stephan Karrenbauer: Ich war mehrere Wochen krank wegen Corona, und ich hatte eine Gürtelrose. Da hatte ich genügend Zeit, darüber nachzudenken. Ich glaube, dass die Arbeit bei Hinz&Kunzt extrem anstrengend ist, weil wir nicht nur das Magazin machen, sondern auch immer noch ganz viele Projekte – weil wir immer den Anspruch hatten zu zeigen: Es geht auch anders.
Der Mann
Stephan Karrenbauer, 60, studierte nach einer Ausbildung zum Kfz-Mechaniker Soziale Arbeit. Er arbeitete jahrelang in der Suchtberatung und war dann 27 Jahre lang Sozialarbeiter beim Hamburger Straßenmagazin „Hinz&Kunzt“. Im Juli ging er in den Ruhestand.
Das Projekt
Das Magazin erscheint einmal pro Monat und wird von 500 Verkäufer:innen angeboten. „Hinz&Kunzt“ hat 38 Mitarbeiter:innen und versteht sich auch als Lobby-Organ und als Ideenschmiede: sei es mit Stadtführungen durch Wohnungslose, Pop-up-Restaurants oder Schrebergärten als Wohnraum.
Ist dieses Neuerfinden gleichzeitig das, was die Leute von Hinz&Kunzt bei der Stange hält?
Es klingt jetzt ein bisschen albern, aber ich glaube, wir sind ein Stück weit Entscheidungsträger in der Stadt Hamburg. Und gefährlich, weil wir immer wieder aufzeigen, dass es anders möglich wäre. Dass wir einfach ein Bürohaus angemietet und dort zwei Jahre Obdachlose untergebracht haben. Was niemand wissen durfte, weil man ja nicht im Hochhaus Menschen unterbringen darf. Wir haben es damals dem Sozialsenator mitgeteilt und haben gesagt: Wir machen mal einen kleinen Ausflug und zeigen dir was.
Und was hat der Sozialsenator gesagt?
Da ist keine Aufsicht – dass ihr so ein Risiko eingeht. Es lief alles gut, alle haben eine Unterkunft gefunden nach zwei Jahren und die letzte Gruppe, die zusammenbleiben wollte, lebt immer noch zusammen in einem angemieteten Einfamilienhaus. Es hat funktioniert und ich glaube, das ist es, weshalb Leute Angst bekommen.
Angst?
Angst ist vielleicht übertrieben. Aber sie nehmen uns ernst als Gesprächspartner. Ich habe das Gefühl, dass die Wohnungslosenhilfe dabei ist, Obdachlose zu verwalten. Wir sind dabei, Menschen auf der Straße immer mehr zu versorgen. Wir haben mittlerweile den Duschbus, wir haben Leute, die Essen auf der Straße verteilen. Das ist alles notwendig, weil wir die Wurzel nicht angepackt bekommen, nämlich ihnen ein Zuhause zu geben.
Und wenn es dann heißt, wie soll man das denn bewerkstelligen auf dem katastrophalen Hamburger Wohnungsmarkt, ist das ein Totschlagargument?
Das ist ein Totschlagargument. Genauso wie: Wir haben kein Geld. Meine große Hoffnung war damals, als die große Flüchtlingsbewegung 2015 kam und wir es gemeistert haben, die Obdachlosen damit zu beruhigen, dass wir sagten: „Ihr werdet davon auch profitieren. Das wird wieder leer und dann könnt ihr da rein.“ Das ist nicht umgesetzt worden. Was kann ich jetzt den Wohnungslosen noch erzählen, damit sie überhaupt noch eine Hoffnung bekommen?
Liegt es daran, dass sich die Politik nicht verantwortlich fühlt für die zunehmend aus Osteuropa stammenden Obdachlosen?
Es ist ja immer das Totschlagargument: Dann kommen sie alle. Wir haben in Hamburg jetzt seit Jahren eigentlich mehr oder weniger die selbe Anzahl von wohnungslosen Menschen, immer so um die 2.000. Es ist nicht so, dass die Gruppe wächst, weil wir ein besseres Programm haben. Die Stadt verbessert sich ja schon von Jahr zu Jahr. Das Winternotprogramm ist letztes Jahr so gut gewesen wie noch nie zuvor mit der Hotelunterbringung.
So reizvoll ist Hamburg dann doch nicht.
Die Leute, die aus Osteuropa hier sind, haben ihre Kinder in der Regel zu Hause. Die wollen einfach dafür Sorge tragen, dass es ihren Kindern einigermaßen gut geht, und nach Hause zurückgehen.
Man könnte ja jetzt kühn denken, dass in Zeiten von Corona und Homeoffice Büroflächen frei werden. Wäre das noch mal so eine große Chance für mehr Wohnraum für wohnungslose Menschen?
Ich denke schon. Ich glaube, dass da insgesamt einfach die Kreativität fehlt. Was wir immer umsetzen wollten, war, eine große Lagerhalle anzumieten und dort wollten wir kleine Schrebergartenhäuser reinsetzen.
Also Tiny Houses?
Das Schönste wäre eine große Halle gewesen, in einem Baumarkt und dann links und rechts kleine Gartenhäuser, von mir aus in der Mitte auch einen Kunstrasen und am Ende der Halle eine riesengroße Gemeinschaftsküche, mit Tischtennisplatten und Fußballkicker. Die Vermieter haben uns ganz doof angeguckt, ob wir noch alle Tassen im Schrank haben.
Bei dem Hotelprojekt im letzten Winter war das anders.
Da rief jemand an und sagte: Ich habe viel Geld, tun Sie was Gutes. Und ich? Mir fiel nichts ein, weil ich selber in einer Coronakrise steckte. Alle Einrichtungen waren geschlossen, nicht, weil wir Angst hatten, angesteckt zu werden, sondern es war die Angst, dass wir die Obdachlosen anstecken.
Und dann?
Es war schrecklich. Ich habe noch nicht mal gefragt, wie viel Geld das war. Und dann kam zum Glück das Wochenende und dann habe ich gesagt, das kannst du nicht machen, da muss du wenigstens mal fragen, wie viel Geld das ist.
Wie viel war es denn?
150.000 Euro. Ich sagte natürlich: Damit müssen wir Leute unterbringen. Ich habe den Hörer aufgelegt, und wirklich, der nächste Anruf kam von einem Hotel: Könnt ihr euch nicht vorstellen, bei uns Menschen unterzubringen? Wir haben bis dahin immer Projekte gemacht mit Menschen, die schon einen Zugang zu uns hatten. Und auf einmal wollen wir ein Projekt machen für Menschen, die sich eigentlich komplett verabschiedet haben aus dem Wohnungslosen-Hilfesystem. Gott sei Dank haben die Leute von der Straßensozialarbeit sofort gesagt: Wir gehen gemeinsam zum Einchecken und dann bleibt die Verantwortung bei dem Sozialarbeiter, mit dem derjenige eingecheckt hat.
Wie war die Resonanz?
Das Verrückte war, dass alle mitgekommen sind. Es waren Menschen dabei, die psychisch auffällig waren, die nichts weiter mit sich herumgetragen haben außer ihrer Kleidung, die sie schon seit Wochen nicht mehr gewechselt hatten. Die sind alle in die Hotels gegangen.
Gab es Berührungsängste aufseiten der Hoteliers?
Also ich glaube, dass mit der Zeit Menschen, die im Wohnungslosenbereich tätig sind, aufpassen müssen, dass sie nicht mehr Vorurteile haben als alle anderen.
Tatsächlich?
Diese Ängste sind mir so aufgefallen, weil die Hoteliers so nett waren, so erfrischend offen. Ich hatte eine Szene, wo ein Obdachloser zum Empfang ging und sagte: „Auf meinem Zimmer ist aber kein Handtuch.“ Die Frau an der Rezeption nahm das Telefon und sagte: „Auf Zimmer 23 hat der Gast kein Handtuch. Bitte bringen Sie ihm eins.“ Ich sah das Gesicht des Wohnungslosen und dachte: He, der ist als Gast bezeichnet worden, der wurde genauso angesprochen, wie ich angesprochen worden wäre. Da dachte ich: Bitte, Stephan, mach dich frei von diesen ganzen Geschichten. Das wird alles gut gehen.
Ging es gut?
Eines der Zimmer ist komplett demoliert worden, als jemand eine Wahnvorstellung bekommen hat. Und dann sagte tatsächlich das Hotel: Es gibt Schlimmeres, erleben Sie mal eine Gruppe von Menschen, die hier Junggesellenabschied feiern. Wir sind vollkommen zufrieden, wie das hier läuft.
Hat Hinz&Kunzt über die Jahre seine Ideen verändert, wie man Obdachlosen am wirksamsten hilft?
Wir sind ganz naiv angetreten und haben gesagt: Bald ist das Problem gelöst. Aber wir können es nicht lösen, weil wir gar nicht diesen Wohnraum haben. Wir haben das Beste daraus gemacht, indem wir kleine Urlaubsinseln geschaffen haben. Ich glaube, dass diese Inseln ein Hoffnungsschimmer gewesen sind für Obdachlose, dass sie überhaupt den Mut aufgebracht haben, zu glauben, dass sie irgendwann die Chance haben, wieder ein relativ normales Leben zu führen. Und ich glaube, dass der Druck wächst, weil viele Hamburger gar keine Lust mehr haben, das Elend weiterhin so zu sehen. Ich finde es sträflich, dass der Senat sagt: In der Großstadt gibt es nun mal viele Menschen, denen es nicht so gut geht. Das ist überhaupt nicht so, man kann was dagegen tun und man muss nicht auf der Straße sterben. Ich hoffe wirklich, dass der Senat das umsetzt, was er versprochen hat, dass im Jahr 2030 das Problem nicht mehr vorhanden ist.
Glauben Sie daran?
Nein. Ich glaube, die werden vielleicht sagen: Wir haben für alle, die einen sogenannten Rechtsanspruch haben, eine vorübergehende Unterkunft oder ein Bett. Sie werden immer sagen, dass sie für die große Gruppe der Menschen aus Osteuropa nicht zuständig sind.
Das heißt, es gibt behördlicherseits Obdachlose zweiter Klasse?
Wir haben mittlerweile die Erfahrung gesammelt, dass einige Menschen aus Osteuropa stark verelenden. Dabei wissen wir, dass die alle arbeiten wollen. Und von der Straße aus zu arbeiten, ist extrem schwierig. Dann gerätst du eben doch in die Fänge von Menschen, die einen schwarz beschäftigen, die dir den Lohn nicht auszahlen. Und da kam die Idee auf, so etwas wie das Gesellenhaus, das der Priester Adolph Kolping mal gegründet hat, einzurichten.
Adolph Kolping kennen heute nicht mehr viele Leute.
Mein Vater war katholisch und auch im Kolpingwerk. Irgendwann habe ich gesagt: Wenn die Gesellen nicht alles taten, was ihnen der Meister befahl, dann verloren sie nicht nur ihren Job, sondern auch ihre Unterkunft. Und genau dieses Problem haben jetzt die Osteuropäer. Ich glaube, dass solche Häuser auch für sie geschaffen werden müssen, wo ihnen ihre Rechte und auch die Pflichten erzählt werden, wo vielleicht sofort ein Intensiv-Deutschkurs angeboten wird, an dem sie teilnehmen müssen. Ich glaube, dass es gut wäre, dort Zeitarbeitsfirmen hinzuschicken, wo man weiß, die zahlen auch den Lohn aus.
Ich finde es interessant, dass der Deutschkurs verpflichtend sein soll – grundsätzlich wirkt Hinz&Kunzt auf mich sehr vorsichtig mit Vorschriften.
Wir haben ein Regelwerk und das ist manchmal ganz schön hart. Die dürfen nur verkaufen, wo wir sie hinstellen. Wenn sie durch die U-Bahn ziehen und werden dabei erwischt, dann gibt es dreimal Verwarnungen. Beim vierten Mal wird ihnen der Ausweis weggenommen. Wenn Gewalt angewandt wird nach dem Motto „Ich bin der Stärkere hier, das ist mein Platz, ich möchte, dass hier niemand anderes verkauft“, kann es dazu führen, dass wir für immer den Ausweis wegnehmen. Und wir haben jetzt eine neue Regelung: Der Ausweis ist nicht lebenslang gültig, sondern nur noch drei Jahre.
Warum?
Danach müssen alle zumindest versuchen, irgendwie Fuß zu fassen. Wir haben immer mehr Osteuropäer, bei denen wir denken, die können mehr als nur jetzt auf der Straße stehen. Das mussten wir auch erst mal lernen: Die sind glücklich. Wer überall verscheucht wurde und auf einmal steht er da mit der Zeitung, hat einen Ausweis von Hinz&Kunzt und alle Leute sind nett zu ihm – da sagt er: „Ich habe das Höchste erreicht, was ich jemals in meinem Leben hatte.“ Aber wir haben einen anderen Anspruch.
Will Hinz&Kunzt eine Sozialleiter sein?
Eine Leiter, die aber ganz unterschiedlich sein kann, es gibt keine festen Treppenstufen. In der ersten Woche habe ich noch daran geglaubt. Ich habe vorher als Suchttherapeut gearbeitet und da war immer das oberste Ziel, dass Leute suchtfrei sein müssen. Für mich war es dann etwas ganz Neues, dass ein Süchtiger zu mir kommt und sagt: „Mensch, geh mir doch nicht immer auf den Keks, dass ich eine Therapie machen muss. Ich war jetzt seit zwei Jahren nicht mehr im Knast. Ich versuche mit dem Geld, was ich mit Hinz&Kunzt erarbeite, über die Runden zu kommen. Und das ist echt schwierig. Aber ich kriegs hin und darauf kann ich doch auch stolz sein.“ Da hat er vollkommen recht. Er bleibt ein schwerkranker Mensch, aber wenn er das sein Leben lang so hinkriegt, dann lass ihn.
Bleibt das schwierig?
Ich glaube, das ist auch das Professionelle. Die Leute werden, wenn sie Drogen oder zu viel Alkohol konsumieren, in der Regel nicht so alt. Wenn ich den Weg weiß, älter zu werden, und die ihn aber nicht mitgehen, muss ich das aushalten. Das ist manchmal schrecklich, wenn man sieht, dass die Leute abrutschen.
Gibt es für Sie eine Grenze, wo Sie sagen: Ich müsste es vielleicht schlucken, aber ich kann es nicht?
Wenn jemand wirklich so krank ist, dass er stark nach Verwesung riecht – wir haben viele Wohnungslose, die offene Beine und Stellen haben – und nicht bereit ist, zu duschen. Wenn also jemand wirklich auf allen Vieren ins Büro kriecht und sagt, ob ich ihm einen Euro geben kann, damit er eine Zeitung kaufen und so weiter Verkäufer sein kann und ich anschließend für zwei Stunden mein Büro lüften muss. Da ist meine persönliche Grenze, wo ich sage: Ich rufe einen Krankenwagen und bestehe darauf, dass du dich untersuchen lässt. Und wenn du es nicht machst, dann musst du in eine andere Einrichtung gehen. Aber das ist zu viel für alle um dich herum. Wir wollen auch, dass unsere Verkäufer spüren, dass sie schon einen Schritt weiter sind.
Von außen ist es schwierig zu verstehen, warum jemand so viel aufs Spiel setzt, um nicht zu duschen.
Es klingt so einfach: Geh’ dich doch duschen. Wir haben ja auch Duschen bei Hinz&Kunzt. Und wenn du neue Klamotten von uns hast, dann kannst du wieder Zeitungen verkaufen. Das machen einige Gott sei Dank, aber es gibt auch Menschen, die es nicht machen – und nicht, weil sie das so schön finden. Ich glaube, sie können sich nackt gar nicht mehr ertragen. Wenn du offene Stellen hast und wenn da auch noch Maden drin sind, dann gehst du nicht duschen, sondern ziehst noch eine andere Hose über deine alte Hose drüber.
Das klingt so schlicht, aber vermutlich ist es sehr wesentlich zu begreifen, dass es da nicht um Verweigerung geht, sondern um eine Unmöglichkeit.
Wir sind 38 Mitarbeiter und davon sind die Hälfte ehemals Obdachlose, die sich aber schon weit aus der Straßenszene entfernt haben. Und die sind manchmal sehr uneinsichtig gegenüber den Menschen, die sich nicht so richtig helfen lassen wollen und können. Viele sagen, dass sie nicht ins Winternotprogramm gehen, weil sie Angst haben, beklaut zu werden und weil es dort so laut ist. Das kann alles stimmen. Aber wer schon einmal am Abend vor dem Winternotprogramm gestanden hat, sieht aus allen Himmelsrichtungen Menschen kommen in einem Gesundheitszustand, wo man sich fragt: Wie können die sich überhaupt noch so aufrecht halten? Wenn ich mich einigermaßen gut fühle, würde ich da nicht reingehen. Immer wieder mit der eigenen Geschichte im Extremfall konfrontiert zu werden, das ist für Betroffene extrem hart.
Wie ein Menetekel für die eigene Zukunft.
Es raubt ihnen die Hoffnung. Die meisten, die auch noch im Winter draußen sind, haben irgendwelche Träume und Hoffnungen und sagen: Das schaffe ich irgendwie. Und wenn du da reingehst, dann kriegst du eins mit dem Knüppel auf den Kopf.
Ich vermute, dass es mehr Menschen gibt, die Hinz&Kunzt verkaufen wollen, als es Verkaufsmöglichkeiten gibt. Haben Sie einen Weg gefunden, das zu lösen?
Eine richtige Lösung gibt es momentan nicht. Wir hatten bis vor vier, fünf Jahren zu allen Verkäufern einen Kontakt. Wir konnten ihnen sagen: Das ist nicht in Ordnung, dass du dich da so offensiv in den Eingangsbereich stellst, stell dich ein bisschen weiter links oder rechts. Da wir unser Regelwerk auch verändert haben und die Leute zumindest ein bisschen Deutsch sprechen müssen, um die Zeitung zu verkaufen, gibt es Personen, die das nicht hinkriegen und die sich mangels Alternative von Verwandten Zeitungen mitbringen lassen oder die Zeitung selbst kaufen und auf Trinkgeld hoffen. Aber auf diese Gruppe hat Hinz&Kunzt eben keinen Einfluss. Unser Prinzip war ja immer, dass sich die Verkäufer einen regelmäßigen Kundenstamm aufbauen. Und jetzt haben wir eine Gruppe von Menschen, die eigentlich ganz schnell Geld verdienen wollen, weil sie das nach Hause schicken und dann heute hier stehen, morgen da, also gar keine Kundenbindung aufbauen wollen.
Also sind Sie Opfer Ihres eigenen Erfolgs?
Es gibt auch Menschen aus Rumänien, die Erfolg haben und den mitteilen wollen, was sie nicht dürfen. Du musst hier als Hinz&Künztler ein bedürftiger Mensch bleiben. Da haben sich vielleicht Verkäufer zusammen ein Auto gekauft, weil sie sich überlegt haben, dass es billiger ist, damit abwechselnd nach Hause zu fahren, als den Bus zu nehmen. Was ist günstig? Ein großes Auto. So eines, was wir gar nicht mehr kaufen wollen. Und dann schlafen sie vielleicht darin und fahren damit zum Verkaufsstand. Dann sagen die Leute: „Das kann doch nicht sein, der hat ein Auto.“ Ich glaube, dass es eine ganz wichtige Aufgabe von Hinz&Kunzt ist, aufzuzeigen, dass die gelernten Bilder keine Gültigkeit mehr besitzen.
Was sind denn noch solche überkommenen Bilder?
Wenn du auf der Straße siehst, dass ein Bettler da sitzt und jemand kommt und leert die Kasse aus. Das ist nicht einer, der ihn ausbeutet, sondern es kann vielleicht auch jemand aus einer Familiengruppe sein, der die Aufgabe hat, regelmäßig das Geld einzusammeln, weil in anderen Städten das Geld vom Ordnungsamt eingesteckt wird, weil das Betteln verboten ist. Oder man sieht einen jungen dynamischen Mann, wo du sagst: „Bitte, kannst du nicht etwas anderes leisten?“ Und dann erzählt er, dass er in Rumänien immer auf der Straße geschlafen hat und zeigt seinen Rücken und man sagt: Was ist das für eine Wirbelsäule?
Es braucht ein Grundwohlwollen. Ich fürchte, ich wäre weit vorne dabei, wenn ich ein dickes Auto sähe, keine Zeitung zu kaufen.
Das geht mir manchmal auch so. Aber ich glaube, dass die Stadt so groß ist, dass es Menschen gibt, die sagen: „Doch, ich kaufe gerade bei dem. Ich weiß ja, der schläft da vielleicht drin.“
Sie wären da großzügig?
Nicht bei jedem. Ich werde, glaube ich, von anderen Personen gefühlsmäßig angesprochen als jetzt eine Großmutter, die vielleicht noch den Krieg miterlebt hat. Und die sich angesprochen fühlt von einem Schild, auf dem steht: Ich habe Hunger. Unabhängig davon, dass der Typ vielleicht so einen Bauch hat. Ich würde vielleicht von dem Mann mit dem Auto angesprochen und kann ihm den Hinweis geben: „Park’ das Auto woanders.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste