Sowjetische Kriegsgefangene: Doppelt verfolgt
70 Jahre nach Kriegsende: Die Opposition im Bundestag fordert, die sowjetischen Kriegsgefangen endlich zu entschädigen.
MOSKAU/BERLIN taz | Mark Telewitsch strahlt. Er freue sich über den Besuch des Reporters, sagt der Kriegsveteran. „Jedes Jahr im Mai wird es um uns herum wieder etwas lebendiger. Wenn der Tag des Sieges, der 9. Mai, naht, erinnert man sich auch an uns.“ Dann wird er ernst: Eigentlich habe er ein unglaubliches Glück gehabt, meint der 92-Jährige. „1941 hätte ich mir nicht vorstellen können, einmal so alt zu werden.“
Er hatte gerade mit 18 Jahren die Schule in Moskau abgeschlossen, als er eingezogen und ins Baltikum verlegt wurde. Kurz darauf geriet seine Einheit auch schon in deutsche Kriegsgefangenschaft. In den folgenden drei Jahren wurde er immer wieder in andere Lager im Baltikum verlegt. „Die Zahl der Kriegsgefangenen war ungeheuerlich“, erinnert er sich. „Hunderttausende müssen es gewesen sein.“
Besonders gewütet hätten diejenigen Aufseher der Wehrmacht, die ohne Fronterfahrungen frisch aus dem Reich ins Baltikum geschickt wurden. „Sie waren noch voller Energie und Tatendrang, die uns das Leben zur Hölle machten“, sagt er. Hunger, Krankheit, schwere körperliche Arbeit von morgens bis abends: Das sei das Lagerleben gewesen. Massenhaft seien die Menschen um ihn herum gestorben.
70 Jahre nach Kriegsende ist Telewitsch jetzt ein Fall für den Bundestag. Das Parlament streitet über ihn und die übrigen noch lebenden Sowjetsoldaten, die die deutsche Gefangenschaft überstanden. Viele sind es nicht mehr. Experten schätzen, dass heute nur noch rund 2.000 von ihnen leben.
Grauenvoll behandelt
2.000 von über fünf Millionen Rotarmisten, die die Wehrmacht einst unter grauenvollen Bedingungen festhielt: Während die Deutschen ihre westlichen Kriegsgefangenen einigermaßen human behandelten, landeten die Sowjetsoldaten als Opfer der nationalsozialistischen Rassenpolitik in Todeslagern. Die Wehrmachtspitze hatte befohlen, den Insassen „jeden Anspruch auf Behandlung als ehrenhafter Soldat nach dem Genfer Abkommen“ zu verwehren.
Für Millionen war der Befehl ein Todesurteil: Nach manchen Schätzungen kehrte nicht einmal die Hälfte der sowjetischen Kriegsgefangenen nach Hause zurück. Bis heute erhielt kaum einer der Überlebenden eine Entschädigung.
Zum Gedenken an das Kriegsende vor siebzig Jahren besucht Bundespräsident Joachim Gauck am Mittwoch das ehemalige Kriegsgefangenenlager Stalag 326 in Stukenbrock-Senne. Als die Alliierten das Lager in Ostwestfalen im Frühling 1945 befreiten, trafen sie auf 300.000 sowjetische Kriegsgefangene. In Massengräbern fanden sie 65.000 Leichen.
Der Linken-Abgeordnete Jan Korte ruft Gauck in einem Brief dazu auf, sich während der Gedenkveranstaltung für Entschädigungszahlungen einzusetzen. „"Ich bin mir absolut sicher, dass gerade Ihre Stimme bei diesem so wichtigen geschichtspolitischen und aktuellen Thema von entscheidender Bedeutung sein könnte“, schreibt Korte.
Die Opposition im Bundestag will das jetzt ändern: Die Linken fordern 7.670 Euro für jeden Betroffenen, die Grünen 2.500 Euro. Höchstens 15 Millionen Euro würde das Vorhaben kosten. „Es geht dabei nicht primär ums Geld. Es geht darum, endlich das NS-Unrecht anzuerkennen, das diesen Menschen zugefügt wurde“, sagt Volker Beck (Grüne).
Eigentlich hätte die Opposition auch die SPD auf ihrer Seite, doch aus Rücksicht auf den Koalitionspartner stimmen die Sozialdemokraten den Anträgen bislang nicht zu. Ob sich die Union umstimmen lässt, ist ungewiss: CDU und CSU haben die russlandkritische Hardlinerin Erika Steinbach auf das Thema angesetzt, und die ehemalige Vertriebenenpräsidentin lehnt Entschädigungen ab. „Ob es klug ist, dass die Union so ein sensibles Thema ausgerechnet ihr überlässt, lasse ich mal offen“, sagt der Linken-Abgeordnete Jan Korte. „Ich hoffe aber, dass wir in den nächsten Monaten trotzdem irgendeine Lösung finden.“ Die Zeit wird knapp.
Überleben durch Deutschkenntnisse
Telewitsch hat die Gefangenschaft durch doppeltes Glück überstanden. Zunächst schaffte er es, den Aufsehern seine jüdische Herkunft zu verheimlichen. „Juden wurden meist zu Anfang aussortiert“, sagt er. Weil seine Eltern nicht religiös waren und ihn nicht beschneiden ließen, entkam er aber den deutschen Vernichtungskommandos.
Außerdem sprach er etwas Deutsch, sodass ihn die Wehrmacht in den Lagern als Dolmetscher gebrauchen konnte. Vor den Langzeitfolgen der Haft bewahrte ihn das nicht. Bis heute plagen ihn jedoch Magen-, Darm- und Rückenschmerzen. „Von den psychischen Folgen, den Ängsten vor der Vernichtung ganz zu schweigen“, sagt er – und wird ganz ruhig.
Er sei erschöpft, sagt er, und erzählt dann von der Zeit, die auf die Gefangenschaft folgte. Es sind chaotische Tage, als die Rote Armee die sowjetischen Landsleute befreit. „Zum Glück war das so“, sagt Telewitsch. Als er dem deutschen Lager entkommt, meldet er sich gleich wieder an die Front. Weil der Sowjetunion auf dem Vormarsch nach Westen die Zeit fehlt, über die gerade befreiten Landsleute im Baltikum akribisch Buch zu führen, bietet dies die Chance, etwas sicherer vor den Verfolgungen Stalins zu sein. Denn in der Sowjetunion ist damals nicht nur Antisemitismus verbreitet – der Generalissimus behandelt die Exkriegsgefangenen auch als Feiglinge und Verräter. Zurück in der Heimat, verschwinden viele von ihnen sofort wieder im Straflager.
Lange sind diese Erlebnisse totgeschwiegen worden. Auch die Betroffenen wagten es nicht, offen über ihr Leid zu sprechen, sie waren stigmatisiert. Die Erinnerung daran wurde zum gesellschaftlichen Tabu. Das ist einer der Gründe, warum in der UdSSR der Nachkriegszeit niemand auf die Idee kam, aus den deutschen Reparationsleistungen an die Sowjetunion eine Wiedergutmachung zu fordern.
Und in Deutschland? Während des Kalten Kriegs wollte sich im Osten wie im Westen kaum jemand an die sowjetischen Gefangenen erinnern. Und zum Mythos einer sauberen Wehrmacht, die sich aus Kriegsverbrechen angeblich heraushielt, passten die Todeslager ohnehin nicht.
Nicht leistungsberechtigt
So gingen die ehemaligen Kriegsgefangenen sogar noch leer aus, als Deutschland im Jahr 2000 ehemaligen Zwangsarbeitern und anderen Opfern rund 10 Milliarden D-Mark zahlte. „Kriegsgefangenschaft begründet keine Leistungsberechtigung“, schrieb Rot-Grün ins Entschädigungsgesetz.
Die CDU-Abgeordnete Steinbach hält diese Entscheidung noch immer für richtig. „Die Mär einer angeblichen nicht erfolgten Wiedergutmachung ist gelogen“, sagt sie. Begründung: Neben den deutschen Reparationen nach dem Krieg und der Zwangsarbeiterentschädigung der 2000er Jahre habe Deutschland schließlich im Jahr 1993 eine zusätzliche Milliarde D-Mark an NS-Opfer in Russland, Weißrussland und der Ukraine überwiesen. Was sie nicht erwähnt: Für die ehemaligen Kriegsgefangenen war von alldem nichts bestimmt. Wenn es nach Steinbach geht, müsste wohl Putin zahlen: „Anstatt die Ukraine zu überfallen“, sagte die Politikerin im Februar im Bundestag, „hätte Russland lieber die noch lebenden ehemaligen Kriegsgefangenen entschädigen sollen.“ Ihre Fraktionskollegen applaudierten. Die SPD-Abgeordneten starrten betreten auf ihre Unterlagen.
Humanitäre Hilfe
„Ich will, dass sich was tut, aber bei der Union beiße ich auf Granit. Frau Steinbach scheint großen Einfluss zu haben“, sagt Stefan Schwartze. Seit 2010 bearbeitet der SPD-Abgeordnete seine Kollegen von CDU und CSU, inzwischen hat er ihnen einen Kompromiss vorgeschlagen: Um keinen Präzedenzfall zu schaffen, könne man auf den Begriff „Entschädigung“ verzichten. Stattdessen regt er an, den Überlebenden „humanitäre Hilfe“ zu leisten; ihnen Miete, Brennholz oder Medikamente zu zahlen. „Ein Zeichen, um konkret zu helfen“, sagt Schwartze.
Grünen und Linken wäre so eine Lösung recht. Nur die Union mauert weiter. Und die Zeit rinnt weiterhin davon.
Der Moskauer Exkriegsgefangene Telewitsch gehört nicht zu jenen, die wirtschaftliche Not leiden. Nach dem Krieg arbeitete er sich hoch und wurde stellvertretender Chefredakteur der größten Autozeitschrift der UdSSR. Gegenüber den Deutschen empfinde er auch keine Verbitterung, sagt er.
Trotzdem würde er sich über eine Entschädigung freuen. An eine Entschuldigung aus Deutschland kann er sich nämlich nicht erinnern, und so langsam wird die Zeit knapp: „Bis zum 100. Geburtstag“, sagt Telewitsch, „fehlen mir nur noch sieben Jahre. Bis dahin sollten sich die Deutschen geeinigt haben.“
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