: Souveräne Saaten
In den Hamburger Vier- und Marschlanden kämpfen die „Tomatenretter“ für ökologische Vielfalt und gegen kapitalistische Landwirtschaft. Mit 440 Tomatensorten und solidarischem Anbau setzen sie auf Nachhaltigkeit. Der Hof soll gekauft werden, doch die Stadt prüft ihr Vorkaufsrecht
Aus Hamburg Quirin Knospe
In den Hamburger Vier- und Marschlanden, versteckt hinter Obstbäumen und wuchernden Sträuchern, liegt an der Gose-Elbe ein unscheinbarer Hof. In seinen drei Gewächshäusern wird jedoch Großes geleistet: Die „Tomatenretter“ setzen sich dort, umgeben von konventionellen landwirtschaftlichen Betrieben, seit rund zehn Jahren für die ökologische Vielfalt des geliebten Gemüses ein – und für eine solidarische Landwirtschaft, die sich kapitalistischen Strukturen entzieht.
Ursprünglich wollte das kleine Gärtnerprojekt bloß geschmacklich hochwertiges Gemüse anbauen. Aber schließlich wurde daraus auch eine praktische Kritik an der heute üblichen Produktionsweise in der Lebensmittelindustrie. In der konventionellen Tomatenproduktion agieren landwirtschaftliche Betriebe nämlich nach den kapitalistischen Prinzipien der Profitorientierung und einer stark getrennten Arbeitsteilung. Diese sei meist mit der Ausbeutung von Arbeitskraft verbunden, erklärt Hilmar Kunath, Gründungsmitglied der Tomatenretter. Der Großteil der in Deutschland konsumierten Tomaten werde zudem unter klimaschädigenden Bedingungen im Ausland angebaut, betont der 75-Jährige während des Gespräches im improvisierten Aufenthaltsraum des Gewächshaus-Komplexes. Die Tomatenretter verstehen sich deshalb auch als Teil der Klimabewegung.
Der Verein wolle im lokalen Kontext in Bergedorf wieder „mehr Zusammenarbeit statt Arbeitsteilung“ entwickeln, um „einen Raum zu schaffen, in dem das Umfeld merken kann: Es geht anders.“ Dafür arbeiten die Tomatenretter unter anderem mit verschiedenen lokalen Vereinen und Umweltinitiativen zusammen. Gestützt wird der solidarische und unkommerzielle Hof von mittlerweile 330 Fördermitgliedern, die sich abhängig von ihren Tätigkeiten und Fähigkeiten im Verein einbringen.
Erina, ist erst seit März auf dem Hof der Tomatenretter beschäftigt. Die 28-jährige Japanerin lebt seit September vergangenen Jahres vorübergehend in Hamburg und möchte in der kommenden Saison neben der landwirtschaftlichen Praxiserfahrung auch ihre Deutschkenntnisse verbessern. Den Hof der Tomatenretter hatte sie per Zufall im Internet gefunden.
Auch langjährige Ehrenamtliche wie Andrea, 54, und Günther, 74, gehören zum festen Kern. Sie schätzen neben der sinnvollen Arbeit vor allem das freundliche Miteinander in der Vereinsarbeit. Immer wieder beschäftigt der Verein dafür auch Praktikant:innen wie den 26-jährigen Robin, der seit März neben seinem Studium in Hamburg regelmäßig auf dem naturbelassenen Hof mitarbeitet.
Die nicht kommerzielle Ausrichtung der Tomatenretter sei über die Jahre eher durch Zufall entstanden, sagt Kunath. Besonders auf eine ausgeglichene Haushaltsführung des Gemeinschaftsprojekts werde stets geachtet. „Wer Schulden macht, hängt systemisch besonders fest“, sagt er. Deswegen werde meist eher in die Reparatur von Dingen investiert als in einen Neukauf.
Die Tomatenretter verstehen sich als „herrschaftsüberwindende“ Institution. Sie setzen sich für ökologische Nachhaltigkeit ein und positionieren sich gegen jegliche Form von Rassismus, Sexismus, Nationalismus sowie patriarchale Strukturen. „Es reicht uns nicht, eine solidarische Landwirtschaft zu sein“, sagt Kunath. Das Ziel sei, eine „Saatgutsouveränität“ in zweifacher Hinsicht zu entwickeln: Die Tomatenretter wollen die Sortenvielfalt bewahren und die Abhängigkeit von Großkonzernen beenden.
Diese Abhängigkeit der Landwirt:innen von großen Konzernen hat in den vergangenen Jahrzehnten massiv zugenommen. Im konventionellen Tomatenanbau werden vor allem sogenannte F1-Hybride verwendet. Dieser Samentyp ist zwar im ersten Anpflanzungsjahr sehr ertragreich und lagerfest, doch im Folgejahr sind die Samen des Gemüses für den Wiederanbau nicht mehr brauchbar, wie Kunath erklärt: „Die Laborentwicklung der Samen bewirkt, dass instabile Ergebnisse erzielt werden.“
Das bleibt nicht ohne Folgen: Weil Landwirt:innen für eine ertragreiche Ernte jährlich neue Samen bei Großkonzernen kaufen müssen, ist es laut Kunath zum Geschäftsmodell geworden, diese in Kombination mit umweltschädlichen Pestiziden und Fungiziden zu verkaufen: „Es werden Konzepte statt Samen verkauft.“ Dadurch würden die Landwirte immer abhängiger von den Saatgut-Konzernen, so „wie wir Verbraucher vom Supermarkt abhängig sind“. Kleinbetriebe würden statt des Gemüsesaatguts oft bereits fertige Jungpflanzen bei den großen Konzernen kaufen, weil die Produktion für die Landwirt:innen aufgrund des wirtschaftlichen Drucks und der Arbeitsteilung nicht mehr profitabel ist.
Hilmar Kunath, Tomatenretter
Aussichtslos sei die Situation aber nicht, betont Kunath. Eine Saatensouveränität vor Ort sei möglich, jedoch nur durch ein öffentlich zugängliches und umfassendes Saatgutarchiv. Die Sammlung des Vereins umfasse mittlerweile rund 440 verschiedene Tomatensorten, welche regelmäßig auf ihren Geschmack sowie ihre Keimfähigkeit getestet werden. Einige „milde“ Sorten müssten deshalb auch mal durch neue Sorten ausgetauscht werden, erklärt Kunath: „Im Grunde wollen wir aber die Gemüsevielfalt fördern und nicht nur fragen: Was schmeckt am besten?“ Spezialisiert habe sich die Gruppe auf das rote Gemüse, weil es in der deutschen Ernährungsgewohnheit fest verankert und geschätzt ist: „Wir könnten auch Gurkenretter sein“, sagt Kunath.
Auf der rund 1,3 Hektar großen Fläche des Hofes werden neben Selbstversorger-Gemüse und Wildpflanzen jedes Jahr etwa 1.800 Tomaten-Jungpflanzen „in chemiefreier, ökologischer und bodenaufbauender Produktionsweise“ angebaut, so Kunath, die schließlich den vielfältigen „Tomatendschungel“ des Vereins bilden. Im Schnitt können die Mitglieder so jedes Jahr zwei Tonnen des Gemüses ernten. Überschüssige Ernte und das aus den Tomaten gewonnene Saatgut verteilen die Ehrenamtlichen gegen eine Spende an Menschen in Hamburg.
Obwohl das Projekt auf positive Resonanz stoße, fehle eine breite und engagierte Öffentlichkeit, sagt Kunath. In Deutschland gebe es weder eine vernünftige Saatgut-Kampagne noch eine entsprechende Politik. Die Arbeit bleibe so meist an kleinen Vereinen wie den „Tomatenrettern“ hängen. Lediglich die österreichische „Arche Noah“ engagiere sich auf EU-Ebene für das Anliegen, habe gegen die weitaus größere Saatgut-Lobby jedoch wenig Einfluss, sagt Kunath. Auf Bundesebene in Deutschland setzt sich der „Verein zur Erhaltung der Nutzpflanzenvielfalt“ für eine souveräne Saatgutpolitik und vereinfachte Neuzulassungen ein.
Um den Hof auch in Zukunft als solidarisches und unkommerzielles Projekt weiterführen zu können, haben die Tomatenretter entschieden, das genutzte Pachtgrundstück zu kaufen. So wollen sie es dauerhaft der privaten Verwertung und kapitalistischen Landnahme entziehen. Bereits im vergangenen Jahr gründeten sie den „Solidarischen Hof Marschlande“, damit der Grundeigentümer vom eigentlichen Betrieb getrennt ist.

Über die Vergemeinschaftung des Hofes sowie alle Bestimmungs- und Erhaltungsangelegenheiten soll das „Ackersyndikat“ wachen, das zugleich Mitglied im Verein sein wird. Dieser dezentrale Solidarverbund von selbstorganisierten und unabhängigen Höfen ist 2020 durch die Kombination der Ideen der solidarischen Landwirtschaft und des Mietshäuser-Syndikats entstanden. So soll der Kauf von beteiligten Höfen durch Nichtlandwirt:innen dauerhaft unterbunden werden.
Finanziert wird das Vorhaben – komplett unabhängig von Geldinstituten – vor allem aus Vereinsmitteln, mithilfe der Fördermitglieder, durch Spenden und zinslose Direktkredite. Der Landkauf sei allerdings noch nicht ganz in trockenen Tüchern, betont Kunath. Zwar sei der Kauf zwischen Verkäufer und dem Verein bereits geregelt, die Stadt Hamburg prüfe derzeit aber noch, ob sie von ihrem Vorkaufsrecht Gebrauch macht.
Den Hof der Tomatenretter zu kollektivieren und zu einem unverkäuflichen Gemeineigentum zu machen, diene vor allem dem sozialen und rechtlichen Selbstschutz der Solidarwirtschaft, sagt Kunath. Man habe in den vergangenen Jahrzehnten erfahren, „dass sich linke Projekte später wieder reprivatisiert haben“. Weil viele Einzelpersonen nach einiger Zeit dann doch lieber profitorientiert weiterarbeiten wollten.
Dokumentation über die „Tomatenretter“ mit Gespräch, 22. 6., 12 Uhr, im 3001-Kino, Schanzenstraße 75, Hamburg
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