Sono Sions "Love Exposure": Raserei in jedem Schnitt
Der japanische Regisseur Sono Sion zerschnipselt in "Love Exposure" (Forum) vier Stunden lang Wahnsinn und Katholizismus.
So geht es los: Die Mutter wird krank und stirbt. Der Vater leidet und wird katholischer Priester. Der Sohn Yu (Nishijima Takahiro) wirft einen Blick auf eine Statue der Jungfrau Maria und strebt auf zu einem Wunder, das vor der Mitte des Films dann auch eintritt. Davor aber muss er, um dem Vater-Priester täglich zu beichten, Sünden begehen und wird so zum Virtuosen der Mädchen-unter-den-Rock-Fotografie. Dreißig Minuten lang läuft, während Yu artistisch seine fotografische Perversion perfektioniert, auf der Tonspur Maurice Ravels Bolero. Eine hysterische Frau kommt ins Spiel. Der Vater verliebt sich, lebt in Sünde mit ihr, sie verschwindet und kehrt wieder.
Auch das geschieht: Ein Mädchen wird von seinem Vater misshandelt und bedrängt. Sie schneidet ihm, als er einen Schlaganfall erleidet, unter großem Blutspritzen den Schwanz ab. Dieses Mädchen ist erst eine Randfigur, beobachtet das weitere Geschehen aus dem Hinterhalt, rückt dann aber zusehends ins Zentrum des Films. Zuvor sieht sie zum Beispiel, wie Yu, der gerade als wirklich großartig aussehende Drag-Queen durch die Straßen zieht, eine Erscheinung hat: Ein Mädchen (Mitsushima Hikari) im Kampf mit einer Jungs-Horde. Das ist, denkt Yu, meine Jungfrau Maria, und bekommt seine erste Erektion. Er wirft sich in die Schlacht, gemeinsam schlagen sie die Gegner in die Flucht. Am Ende erkennen und verkennen - das eine ist vom anderen nicht zu unterscheiden - Yu und das Mädchen Yoko einander. Es ergeben sich daraus Verwandtschafts- und Liebesverhältnisse der ungesunden Art.
Vier Stunden ist Sono Sions "Love Exposure" lang, und um Konventionen schert der Film sich nicht. Sex und Katholizismus, eine verrückte Sekte, überhaupt: Wahnsinn, Religion und Begehren werden zerschnipselt zu einem Bildersalat, der es in sich hat. Immer sind Sono Sions Filme randvoll mit Ideen, guten wie schlechten, wichtig ist vor allem die Fülle. "Strange Circus", vor zwei Jahren im Forum, war eine blutige Grand-Guignol-Ausgeburt. "Love Exposure" wirkt offener, ein bisschen weniger psychotisch, aber das heißt noch lange nicht, dass irgendetwas daran normal und kommensurabel wäre. Es steckt eine Raserei in jedem Schnitt, die Kamera ist ein Wesen, das niemals zur Ruhe kommt. Familien werden zerstört, Gefühle und Beziehungen pervertiert. Heraus kommt ein Film nicht für jeden, ein Machwerk der immer wieder mal faszinierenden Art.
EKKEHARD KNÖRER
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