Songs übers Bahnfahren: Sehnsucht nach den Hobos
Der britische Singer-Songwriter Billy Bragg hat sich für sein neues Album „Shine a Light“ mit seinem US-Kollegen Joe Henry zusammengetan.
Distanziert sich Billy Bragg nun etwa von Jeremy Corbyn? Diese Frage beschäftigte viele Briten nach seinem Auftritt beim Edinburgh International Book Festival im August, nachdem ihm eine britische Zeitung offenbar wegen des Brexit falsch zitiert hatte. Das wollte der Singer-Songwriter und linke Aktivist auf keinen Fall auf sich sitzen lassen. Bragg gründete in den Achtzigern während der Thatcher-Ära mit Kollegen die Wedges-Bewegung, um junge Wähler für die Labour Party zu begeistern, er solidarisierte sich auch mit streikenden Bergarbeitern. Seither genießt Bragg den Ruf, ein unbequemer Zeitgenosse zu sein.
In den sozialen Medien versuchte der Künstler, Schadensbegrenzung zu üben. Mit mäßigem Erfolg. Andere Zeitungen hatten sich längst auf seine Anfeindungen gegen Corbyn gestürzt. Es dauerte Wochen, bis sich die Wogen wieder geglättet hatten. Er sei gewiss nicht mit allen einverstanden, mit dem, was die Labour Party tue, setzt der Musiker zu einer Erklärung an. Deswegen würde er Corbyn aber nicht gleich seine Unterstützung entziehen.
Der 59-Jährige gilt als aufrechter Linker. Ihm eilt der Ruf voraus, bodenständig zu sein – ein Künstler mit menschlichem Antlitz. Und nun überrascht er mit einem neuen Album, „Shine a Light – Field Recordings from the Great American Railroad“, das unprätentiös daherkommt. Dafür hat der Brite einen alten Freund dazugeholt: den Singer-Songwriter Joe Henry aus Los Angeles. Die beiden nehmen sich dafür etwa Songs von Hank Williams, Jimmie Rodgers und Gordon Lightfoot vor.
Den Schlüssel zum Verständnis dieses Albums liefert Braggs Jugend. Als er noch ein unbeschriebenes Blatt war, vergötterte er Jackson Brown. Bis zu seinem 19. Lebensjahr hört er ausschließlich US-Folk. Seither kochte in ihm immer wieder der Wunsch hoch, sich intensiver mit den Wurzeln der Americana zu beschäftigen. Nach drei Woody-Guthrie-Tribute-Alben folgen jetzt 13 Songs verschiedener Künstler. Was sie verbindet: Die Songtexte handeln von der Eisenbahn.
Von Chicago nach Los Angeles
Konsequenterweise haben Bragg und Henry die Songs während einer Zugreise durch die USA vom Mittleren Westen zur Westküste eingespielt. In Chicago bestiegen sie mit einem Tontechniker einen Zug und fuhren die 2.728 Meilen bis Los Angeles. Unterwegs packten sie ihre Gitarren aus, um zu proben. Stress mit anderen Reisenden gab es nicht: „Wir waren bis San Antonio in Texas oftmals die einzigen Fahrgäste, weil nur wenige Amerikaner die Bahn als Langstrecken-Verkehrsmittel nutzen.“
Billy Bragg über den Brexit
Während eines Stopps an einem der Bahnhöfe, in El Paso, Texas, bauten die Musiker ihr Equipment im Wartesaal auf. Anderswo spielten sie direkt neben den Gleisen. Für die Aufnahme blieben 30 Minuten, sie versuchten, mit schlichten Arrangements in einer Art musikalischem Reisetagebuch die Magie des Moments einzufangen – ohne großes Brimborium. Im Hintergrund hört man allenfalls das Tuten eines Zugs. Ansonsten stehen Gesang und Gitarren im Vordergrund.
Das funktioniert ziemlich gut. Etwa bei „Lonesome Whistle“, wo Bragg seine Stimme tiefer wandern lässt, wenn er Henry gesanglich unterstützt. „The Midnight Special“ intoniert das Duo voller Inbrunst. Sein Gesang ist harmonisch. Trotzdem fragt man sich: Wäre es für Bragg nicht an der Zeit gewesen, den Protestsänger herauszukehren, statt Fremdmaterial zu interpretieren? Der 58-Jährige lacht: „Seit dem Brexit geht es in Großbritannien so turbulent zu, dass niemand weiß, was Sache ist.“ Kürzlich habe er einem Magazin ein Interview gegeben, am folgenden Tag, „war es nicht mehr aktuell. Die Situation muss sich erst beruhigen, bevor ich wieder sozialkritische Lieder komponieren kann.“
Billy Bragg &Joe Henry: „Shine a Light – Field Recordings from the Great American Railroad“ (Cooking Vinyl/Sony)
Der Brexit war ein harter Schlag für Bragg: „Ich habe für den Verbleib Großbritanniens in der EU gestimmt.“ Das Ergebnis des Volksentscheids hat ihn überrascht: „Ich dachte, meine Landsleute würden sich mit einer knappen Mehrheit für den Verbleib entscheiden.“ Dass andere Staaten Großbritannien nacheifern und Brüssel ebenfalls den Rücken kehren, hält Bragg für ausgeschlossen: „Andere wissen besser, was sie an der EU haben.“
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