■ Sondersitzung des Bundestags zur Haushaltspolitik: Regierung kopflos
Der Kanzler fehlte gestern bei der Bundestagsdebatte zur schwelenden Haushaltskrise. Nicht nur physisch. Seit Wochen vermittelt die Regierung den Eindruck, daß es gar keinen Kanzler mehr gibt, niemanden, der sich über die Richtlinien der Politik Gedanken macht. Die Koalition aus FDP und Union beweist täglich, daß sie keine Idee mehr hat, wo sie politisch hin will. Der selbsternannte Europapolitiker Kohl hat zwar die Währungsunion und die Regierungskonferenz Maastricht II auf die Tagesordnung gesetzt, anschließend aber das Thema europäische Einigung im täglichen Gewurstel der Koalition untergehen lassen.
Vor allem in der Wirtschafts- und Finanzpolitik spielen Konzepte keine Rolle mehr. Die Koalitionäre beschließen munter Steuergeschenke für Reiche, schließen Steuererhöhungen kategorisch aus und malen rosa Zerrbilder der finanzpolitischen Zukunft. Finanzminister Waigel gab gestern im Parlament eine jämmerliche Figur ab, vermochte das Chaos nicht mehr zu vertuschen. Der Höhepunkt der Waigelschen Haspelei: Die geplante Staatsverschuldung soll nicht steigen, aber die Bundesanstalt für Arbeit benötigt entgegen allen Plänen 1997 nun doch einen Zuschuß.
Die Opposition hat den Irrsinn in der Regierung gestern genüßlich aufgespießt. Sie konnte Waigel als Dorfdeppen durch den Ring führen und der FDP in immer neuen Varianten unterstellen, die Interessen der BürgerInnen dem Überlebensinteresse der Partei zu opfern. Die Koalition trieb richtungslos dahin, es ging nur noch ums Durchstehen der Debatte.
Die Machtfrage vermochte die Opposition indes nicht zu stellen. Die Koalitionäre mochten schwanken, aber sie fielen nicht um. Oppositionsführer Joschka Fischer sprach in schwarzer Lederjacke davon, daß die Stunde naht. Allein sie war aber nicht da.
Weil dies vorher klar war, weil die Machtfrage gestern (noch) nicht auf der Tagesordnung stand, brauchte es an diesem Tag den Kanzler nicht wirklich. Kohl, der Historiker, der Mann der Vergangenheit, läßt in der Debatte um Deutschlands politische Zukunft ohnehin nur seine Minister wurschteln, jeden und jede in eine andere Richtung und ohne gemeinsame Idee. Zukunft interessiert den Kanzler nicht mehr, er mimt lieber den Elder Statesman und großen Handelsreisenden im Ausland. Auch Helmut Schmidt hat vor dem Ende seiner Regierungszeit gemeint, wer noch Visionen habe, der müsse wohl zum Arzt. Vor dem Ende. Hermann-Josef Tenhagen
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