Sommer an der Krummen Lanke: Die Erotisierung des Körpers
Fast nackt ist spannender als komplett ausgezogen. Mit der sexuell geladenen Atmosphäre am Strand von Tel Aviv können Berliner Seen nicht mithalten.
I m internationalen Vergleich erlebt Berlin einen sehr ruhigen Sommer. Während eines Spaziergangs am Ufer der Krummen Lanke im Süden der Stadt staune ich über die unvorstellbare Ruhe. Die Leute lesen Bücher, unterhalten sich leise, und außerdem – man kann sich dem nicht entziehen – sind viele von ihnen nackt. Wenig entfernt von mir tauchen zwei muslimische Frauen mit Kopftuch auf. Die beiden tun sich erkennbar schwer damit, ihren Platz in dieser entspannten FKK-Umgebung zu finden.
lehrt Jüdisches Denken am Sapir College in Sderot und ist Autor vieler Sachbücher und Romane. Auf Englisch erschien im Mai sein Spionagethriller „The March Angel“.
Meine eigene Situation ist, wie ich feststellen muss, gar nicht so anders, komme ich doch aus einem Land, das zwar sehr liberal ist – einerseits –, auf der anderen Seite aber auch sehr konservativ. Lässiges Nacktsein ist in Israel etwas Seltenes. Bei uns stecken beide Seiten, die sexuell befreiten Liberalen wie auch die frommen Radikalen aus ultraorthodoxen Städten wie Bnei Berak, tief in einer Art Erotisierung des Körpers. Beide Seiten fassen den Körper als sexuell, extrem sexuell, ja fast als ausschließlich sexuell auf.
In diesen heißen Sommertagen laufen Frauen in Tel Aviv in supereng anliegenden dünnen Strumpfhosen herum. Dabei ist ihnen selbst wie auch ihrer Umgebung völlig klar, dass diese spektakuläre Zurschaustellung der Schöpfung, ihre Bereitwilligkeit, sich der Welt zu zeigen, an sich schon sexuell ist. Oder wenigstens: auch sexuell. Der Sexualität der Körper ist hier nicht zu entkommen.
Auch die Frauen in Bnei Berak, die bei dieser Hitze vermummt in formlosen langen Röcken und mit Tüchern um den Kopf herumlaufen, fassen den Körper und die Körperlichkeit als etwas komplett Sexuelles auf. Daher auch der ständige Versuch, sich zu verhüllen und zu verstecken, denn Sexualität ist gefährlich, tödlich. Beide Seiten sind geprägt von der konservativen und repressiven Haltung des rabbinischen Judentums zur Sexualität.
Protest gegen die radikalen Frommen
Die Erotisierung des Körpers ist in weitem Maße eine Rebellion gegen diese Haltung, was wiederum unter den radikalen Religiösen zu einer weiteren Verhärtung des rabbinischen Konservativismus führt. Zwar gibt es in Israel den durchaus verbreiteten Trend zurück zur Natur und New Age. Diese Kreise zielen in gewisser Weise darauf ab, den Körper zu entsexualisieren, allerdings ohne großen Erfolg. Ihr gesamtgesellschaftlicher Einfluss ist überschaubar. Der israelische Körper bleibt sexuell, der auf ihn gerichtete Blick umrahmt ihn als sexuell, und er reagiert sexuell.
Am Strand von Tel Aviv laufen Frauen im Tanga herum. Sie sind beinahe nackt. Aber diese Fast-Nacktheit ist sexuell. Und das Ausziehen ein erotischer Akt. In Deutschland aber wird die Nacktheit erstaunlicherweise zu etwas Alltäglichem. Der Körper wird seiner Sexualität entledigt und zu etwas Sachlichem, etwas Funktionalem. Hier bedarf es keinerlei Esoterik, um sich von der Erotisierung des Körpers zu befreien.
Es scheint, als sei das alles keine große Sache. Michel Foucault argumentierte, dass der Körper und das Geschlecht an sich nicht interessant seien. Interessant werde beides erst durch den Diskurs, der in der westlichen Kultur darüber geführt wird, der Diskurs, der Körper und Geschlecht zu etwas Geheimem macht, zu etwas, das um jeden Preis verborgen bleiben muss.
Nur hat es den Anschein, dass die Leute in Deutschland gleichzeitig mit der Kleidung auch den Diskurs abgelegt haben. Als hätten Hunderte Jahre Protestantismus den Körper von sexuellen Konnotationen abgekoppelt und ihn so völlig befreit. Der Körper weckt keinerlei Faszination mehr. Sigmund Freud und Michel Foucault haben an der Krummen Lanke nichts mehr zu suchen.
Aus dem Hebräischen von Susanne Knaul
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren
Tod des Fahrradaktivisten Natenom
Öffentliche Verhandlung vor Gericht entfällt
Grüne über das Gezerre um Paragraf 218
„Absolut unüblich und respektlos“
Wahlprogramm der FDP
Alles lässt sich ändern – außer der Schuldenbremse
Migration auf dem Ärmelkanal
Effizienz mit Todesfolge