: Solidarität mit Hausbesetzern
■ Zum zweiten Mal demonstrieren 4.000 Göttinger gegen Häuserräumungen und Massenfestnahmen / Der Rat der Stadt verurteilte Polizeiaktionen / Polizei: „Kein Fehlschlag“
Aus Göttingen Jürgen Voges
„Sinn der Maßnahme ist es gewesen, die Szene aus der Anonymität zu reißen“, so begründet der leitende Polizeidirektor Lothar Will im nachhinein die Einkesselung des Göttinger Jugendzentrums „Juzi“, bei der vor einer Woche eine ganze Versammlung festgenommen und 408 junge Leute einer sog. „kleinen Erkennungsdienstlichen Behandlung“ unterzogen wurden. Und der niedersächsische Innenminister Wilfried Hasselmann, dessen Staatssekretär vorab das Placet für die Massenverhaftung gegeben hatte, tönte in der Lokalpresse: „Wir müssen die Strippenzieher aus ihren Löchern holen.“ Doch Göttingen hat in dieser Woche die beiden größten Demonstrationen seit 1981 erlebt. Unter der Parole „Göttingen, Bullenstadt - wir haben dich zum Kotzen satt“, gingen am Samstag 4.000 auf die Straße. „Bei den Demonstrationen ist klar geworden, daß die Leute, auf die wir Wert legen, die politisch aktiv sind, hinter uns stehen“, so sehen die Autonomen das Ergebnis der turbulenten Woche. Am Freitag hatte der Rat der Stadt Göttingen auf Antrag der Grün–Alternativen–Liste Räumungen und Polizeikessel verurteilt. In der von der rot–grünen Ratsmehrheit verabschiedeten Entschließung wird der Göttinger Stadtdirektor dafür gerügt, daß er eigenmächtig die Räumung jenes Hauses beantragt hat, das im städtischen Besitz ist. Den Polizeieinsatz verurteilte das Stadtparlament, weil dadurch „für Teile der Göttinger Bevölkerung das Versammlungsrecht aufgehoben wurde“. Die Begründung für den Einsatz, die angebliche Verabredung von Straftaten, entbehre jeder Grundlage. Auf der Kundgebung nach der Demonstration am Samstag solidarisierten sich nicht nur die Redner aus dem linken Spektrum und der Sprecher des Landesvorstandes der niedersächsischen Grünen mit den Autonomen. Auch der Göttinger DGB–Kreisvorsitzende Michael Zimbal brach eine Lanze für den Widerstand auf der Straße. „Wessen Frieden und Freiheit sollen BGS und Polizei denn schützen?“ fragte der Gewerkschafter. Der Druck der Straße sei eines der wichtigsten grundgesetzlich verbrieften Mittel, „um der Gewalt, die die Privilegierten schützt, etwas entgegenzusetzen“. Eine Sozialarbeiterin des städtischen „Juzi“ hat unterdessen eine Bilanz der Einkesselung vorgelegt. Demnach hat die entfesselte Staatsgewalt, die am Montag abend in fünf Räumen des „Juzi“ gleichzeitig mit Polaroidkameras und mobilen Datenterminals die massenhafte ED–Behandlung durchzog, bei der sich anschließenden Durchsuchung des Hauses die Belichtungsmaschine im Fotolabor demoliert und in zwei Räumen, in denen sich während des Polizeieinsatzes niemand aufhielt, ohne Anlaß CN–Gas versprüht. Eine 27jährige, gehbehinderte Lehrerin, die vor der ED–Behandlung mit Fußtritten von der Polizei mißhandelt und mit dem Satz: „Alte, zier dich nicht so“ gezwungen wurde, sich in Anwesenheit männlicher Polizeibeamter teilweise zu entkleiden, hat Strafanzeige gegen die Polizei angekündigt. Obwohl die Polizei, die die Durchsuchung des Juzis mit der Suche nach einem Störsender begründete, keinen einzigen Gegenstand beschlagnahmt hat, war sie für den Einsatzleiter, Polizeidirektor Will, „kein Fehlschlag“.
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