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Solidarität mit Ermittlungsrichtern

■ In Moskau und Leningrad demonstrierten Zehntausende für die Ermittler Iwanow und Gdljan / Transparente gegen den KGB, das ZK und Gorbatschow / Warnstreiks in 31 Leningrader Betrieben / Noch kein Entscheid über Aufhebung der Immunität im Obersten Sowjet

Moskau(ap) - Mehrere zehntausend Menschen sind am Dienstag in Moskau und Leningrad zu Solidaritätsbekundungen mit den früheren Untersuchungsrichtern Telman Gdljan und Nikolai Iwanow auf die Straße gegangen. Der Oberste Sowjet eröffnete zur gleichen Zeit eine Debatte über die Aufhebung ihrer Immunität als Abgeordnete. Ein Untersuchungsausschuß des Parlaments hatte den beiden vorgeworfen, bei Ermittlungen gegen führende sowjetische Funktionäre Verdächtige illegal inhaftiert und bedroht sowie unbegründete Vorwürfe veröffentlicht zu haben. Die beiden ehemaligen Richter waren 1986 mit der Untersuchung der „usbekischen Mafia“ betraut worden. Ihre Ermittlungen hatten unter anderem zur Verurteilung des Schwiegersohns von Breschnew, Juri Tschurbanow , wegen Bestechlichkeit geführt. Danach hatten die beiden Ermittler auch amtierende Mitglieder Sowjetführung angegriffen, vor allem den Führer des konservativen Blocks im Politbüro, Jegor Ligatschoww. Im letzten Jahr wurde ihnen der Fall entzogen.

Bei den Demonstrationen wurden Gdlian und Iwanow als Gewissen der UdSSR bezeichnet und ihr Schicksal mit dem der Demokratie gleichgesetzt. Vor dem Winterpalais in Leningrad, wo nach Schätzungen westlicher Journalisten annähernd 100.000 Menschen zusammenkamen, waren Rufe wie „Gorbatschow tritt ab!“ und „Nieder mit dem KGB!“ zu hören. Der Leningrader Journalist Maxim Korschow sagte, in 30 Fabriken sei es zu einstündigen Warnstreiks gekommen. In Moskau, wo sich etwa 10.000 Demonstranten vor dem Kreml versammelten, kritisierte der radikale Reformer Boris Jelzin das Politbüro, weil es die von Gdljan und Iwanow geführten Ermittlungen behindert habe.

Die Demonstration in der Hauptstadt war von den entschiedenen Reformgruppen organisiert worden. 30 Mitglieder des neuen Moskauer Stadtrats, des Mossowjet, nahmen an der Kundgebung teil. Die Demonstranten forderten den Rücktritt des Generalstaatsanwalts Alexander Sucharow und seiner „Gefolgsleute“ in der Staatsanwaltschaft. Auf Transparenten war zu lesen: „Schmach über das Zentralkomitee, Schmach über Gorbatschow“.

Den Vorwurf, staatsanwaltschaftliche Ermittlungen zu behindern, hatten die beiden Untersuchungsrichter vergangenes Jahr namentlich gegen Politbüromitglied Jegor Ligatschow erhoben, was vom Untersuchungsausschuß aber als unbegründet zurückgewiesen worden war. Beide Richter waren ihrer Ämter enthoben und im Februar aus der KPdSU ausgeschlossen worden. Im März wurden sie in Moskau und Leningrad als Abgeordnete in den Obersten Sowjet gewählt. Gegenwärtig sollen sie sich in Armenien aufhalten, von wo sie bei Aberkennung der Immunität auf vakante Sitze im Volkdeputiertenkongreß nachrücken sollen. KGB-Chef Wladimir Krjutschkow bezeichnete sie laut 'Tass‘ als „politische und kriminelle Abenteurer“, die sich offenbar mit allen Mitteln der Verantwortung entziehen wollten. An den Beratungen des Obersten Sowjet nahmen Gdljan und Iwanow nicht teil, obwohl sie selbst auf einer öffentlichen Debatte bestanden haben sollen. Während der Debatte haben mehrere Abgeordnete die Feststellungen der Untersuchungskomission unterstützt, sich aber gleichzeitig gegen eine Aufhebung der Immunität der beiden Deputierten ausgesprochen. Bei Redaktionsschluß hatte die Abstimmung über den Antrag noch nicht stattgefunden.

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