Social-Media-Profile als Nachlass: Über den Tod hinaus
Peter Engemaier hat zwei seiner Kinder verloren. Doch im Internet leben sie weiter. Er kann dagegen nichts unternehmen.
Engemaier, 68, wohnt in Niedersachsen, eine halbe Autostunde von Wolfsburg entfernt. Der Rentner versucht, Ordnung auf dem Tisch herzustellen: die Tasse Cappuccino, das Smartphone, die zwei Hörgeräte. Er befestigt eines hinter dem linken Ohr, das andere hinter dem rechten und taucht auf in die Geräuschkulisse. Vögel zwitschern. In der Ferne fährt ein Traktor über den Feldweg. „Ich muss gar nicht so weit wegfahren, um mich zu entspannen“, sagt er. Doch Ruhe findet er keine.
Wenn er seine eigene Tochter googelt, findet er Fotos und ein deaktiviertes Profil auf der Webseite StayFriends. Fünf Jahre nach ihrem Tod lassen sich diese Daten noch immer abrufen.
„Wenn jemand stirbt, dann sollen die Daten gelöscht werden“, sagt er. Seiner Tochter im Netz zu begegnen schmerzt. „Was mit dem menschlichen Körper nach dem Tod passiert, weiß ich. Aber was mit den Daten passiert, weiß ich nicht.“
Viele Hinterbliebene stehen vor ähnlichen Fragen: Was tun mit all den Webseiten, E-Mail-Accounts, Online-Banking, Amazon, eBay, Zalando, Spotify, Netflix und Profilen in sozialen Medien? Bestehen lassen, löschen, ab- oder ummelden? Und wie genau macht man das eigentlich?
Die Firma für den digitalen Nachlass
Berlin-Kreuzberg, Ritterstraße 3. Hinter einem schattigen Eingang breitet sich ein Innenhof aus. Er dient zum Parken, aber vor allem zum Rauchen. Zwei Bürogebäude mit waldgrüner Fassade, Sitz der Firma Columba. „Wir sind ein Dienstleister für Bestattungsunternehmen“, sagt Mitbegründer Christopher Eiler, 44. Columba ermittelt Nutzerkonten von verstorbenen Personen, veranlasst die Deaktivierung von Social- Media-Accounts und überträgt bestehende Abonnements auf Angehörige.
Peter Engemaier
Die Leute, sagt Eiler, stellen sich die Arbeit bei Columba oft so vor: Sherlock Holmes sitzt mit einer Lupe vor dem Computer und sucht nach Daten. „Aber ich muss Sie enttäuschen: Bei uns sucht niemand persönlich nach Daten. Das macht unsere Software.“ Columba heißt auf Latein Taube. „Wir sind wie eine digitale Brieftaube und bringen die Sterbefallinformation im Auftrag der Hinterbliebenen zu den Vertragspartnern der verstorbenen Person.“
Obwohl sich die Columba-Mitarbeiter jeden Tag mit dem Tod befassen, gehen sie damit locker um. Ein junger Mann öffnet die Tür, geht vorbei an einem Kicker-Tisch und Clubmate-Kisten in den Arbeitsraum der Software-Entwickler. Tastaturen klackern. Sechs Männer, sie tragen Käppis, sitzen hinter Computern und sagen, sie machen „irgendwas mit Computern“. Lachen.
Tod an der Landstraße
Rentner Peter Engemaier hat Computer und Technik stets mit Fortschritt gleichgesetzt. In den 1990ern hat er zwei Internetcafés eröffnet, seinen Sohn von LAN-Partys abgeholt, und als er nach der Scheidung für einen neuen Job nach Niedersachsen zog, ließ sich die räumliche Distanz zu den Kindern über E-Mails aushalten. Bis zum 17. August 2000, einem Donnerstag mitten in den Ferien.
Sein Sohn André verabschiedet sich vom Rest der Film-AG und nimmt den Bus nach Hause. Am frühen Nachmittag steigt er an der Bundesstraße 99 zwischen Zittau und Görlitz aus. Keine Bus-Bucht, nur eine Bushaltestelle. Um 14.20 wird André von einem Auto überfahren. Er wurde dreizehn Jahre alt.
„Wenn man ein Kind verliert, dann kann man das nicht in Worte fassen. Was soll ich denen sagen, die das nicht erlebt haben? Vielleicht: Ich hoffe, dass euch das nicht passiert“, wird Engemaier Jahre später sagen. Es heißt, wenn jemand stirbt, hält die Familie fester zusammen. Bei Engemaier war das nicht so. Er versucht, Andrés Tod „aus dem Kopf herauszuarbeiten“. Überstunden, Urlaubsverzicht, Rotwein.
Als seine Tochter Eva im Juli 2013 auf dem Krankenhausbett liegt, die Haare ganz kurz, hat sie längst eine neue Blutgruppe: A, die vom Stammzellenspender, nicht B, ihre eigene. Am Tag, an dem Engemaier seine Tochter das letzte Mal sieht, ist sie blass, fast schon grau. Sie bekommt kaum mehr Luft. Der Vater umarmt sie. Sie winkt ihm zum Abschied, so viel Kraft hat sie gerade noch. Am nächsten Morgen ist Eva eingeschlafen. Sie war 37 Jahre alt, Ehefrau und dreifache Mutter.
Die Trauer und das Netz
Engemaier tobt, schreit, weint. Es fühlt sich an wie ein Fehler, als er zum zweiten Mal am Grab eines seiner Kinder steht. Die Trauer schreibt er sich auf Facebook von der Seele:
26. Juli 2013, 19:11. „… es sind nur Tage vergangen … doch wie viele Tage müssen noch vergehen, damit der Schmerz vergeht?“
Er trinkt. Nicht so viel, dass er die Kontrolle verliert. Aber so, dass der Alkohol manchmal Überhand nimmt. Er macht eine Therapie.
25. März 2014, 18:12. „… nun wird es bald ein Jahr sein, dass ich jeden Abend drei Kerzen anzünde, und mich frage – wie ich dies alles durchstehen kann?“
Hin und wieder sucht er nach seiner verstorbenen Tochter, und Bing und Google spucken aus, was über sie im Netz vorhanden ist. Er findet ein Social-Media-Profil seiner Tochter, das Konto wurde eingefroren, bleibt aber abrufbar. Ein verschwommenes Foto, 56 Kontakte, die besuchten Schulen, daneben ein Kreuzzeichen. Darunter werden Besucher der Seite aufgefordert: „Sagen Sie Ihren Freunden und Bekannten, wie Sie sich an sie erinnern.“ Zur Auswahl stehen: humorvoll, clever, gutaussehend, Sahneschnitte, cool, Kumpel, mein Schwarm. Die Bewertungen sind nicht öffentlich.
Die Berliner Firma will Distanz wahren
Von diesen persönlichen Schicksalen bekommt ein Programmierer bei der Firma Columba in Berlin nicht viel mit. „Wir unterhalten uns hier nicht über den Tod. Nee, im Ernst jetzt. Wir arbeiten einfach mit Datensätzen.“ Nur manchmal ruft ein Angehöriger direkt bei Columba an, ist wütend oder weint. „Das fühlt sich komisch an. Aber wir müssen hier einfach Distanz wahren“, sagt ein Mitarbeiter Anfang 30. Am Ende des Telefongesprächs habe er dem Anrufer einen schönen Tag gewünscht.
Die eigentlichen Auftraggeber von Columba sind Bestattungsunternehmen, insgesamt 1.500 aus Deutschland, Österreich und den Niederlanden. Traditionell kümmert sich der Bestatter um die Formalitäten nach dem Todesfall, verständigt die Friedhofsverwaltung, die religiöse Gemeinde und das Standesamt, regelt die Versicherungen, gibt der Krankenkasse Bescheid und kündigt Zeitungsabonnements. Doch immer häufiger wird auch der digitale Nachlass verwaltet. 90 Prozent der deutschen Bevölkerung sind mittlerweile online. 66,5 Millionen Menschen.
Dass die meisten Angehörigen gar nicht wissen, wo der Tote überall angemeldet war, ist in vielerlei Hinsicht problematisch. Plötzliche E-Mails, die an den Geburtstag des Toten erinnern, sind zwar schmerzhaft. „Aber wenn es sich um kostenpflichtige Accounts handelt, dann wird es auch noch teuer“, sagt Firmensprecher Christopher Eiler. Wenn niemand über den Todesfall informiert, werden auch die Rechnungen vererbt.
Für die Internet-Suche benötigt Columba nur die Sterbedaten und -urkunde, keine Passwörter, die werden ohnehin in den seltensten Fällen dokumentiert und vermacht. In der Regel sind es pro Sterbefall zwölf Ab- oder Ummeldungen. „Aber heute hatten wir einen Fall, da waren es sogar dreiundsechzig.“ Etwa 100.000 Aufträge erhält Columba jährlich, Tendenz steigend.
Columba fragt in der Regel bei 250 Internetunternehmen ab, ob der Verstorbene ein Kunde war. Wenn das der Fall ist, greift die Nachlassverfügung. Und der Erbe entscheidet, ob das Konto fortgesetzt, übertragen oder gelöscht wird. „Wobei gelöscht noch lange nicht gelöscht heißt. Die Konten werden deaktiviert“, sagt Eiler.
Der Tod und die Allgemeinen Geschäftsbedingungen
Was mit einem Profil passiert, nachdem es in den Gedenkzustand versetzt wurde, regeln die Allgemeinen Geschäftsbedingungen des jeweiligen Anbieters, sagt Anne-Christine Herr, Sprecherin der Rechtskanzlei „Wilde Beuger Solmecke“. Theoretisch bleiben diese Daten auf unbestimmte Zeit online, wenn die Erben die Löschung nicht beantragen.
Auf ein Konto im Gedenkzustand zuzugreifen, war für die Erben bis vor Kurzem nicht möglich. Das änderte sich mit einem Urteil, das der Bundesgerichtshof im letzten Sommer fällte. Die Richter entschieden im Sinne der Eltern der verstorbenen 15-Jährigen. Sie erhielten den Zugriff auf das eingefrorene Konto. „Jetzt muss Facebook den Erben den Zugang gewähren, wenn sie dies wünschen“, erklärt Herr.
Der Bundesgerichtshof sagt damit, dass Erben im Onlinebereich genauso zu behandeln sind wie im Offline-Leben und dass für Nachrichten und Daten auf Facebook dasselbe gilt,wie für Tagebücher und Briefe. Das Urteil gilt als richtungsweisend. „Es ist nicht mehr denkbar, dass den Erben der Zugang auf solche Konten in Zukunft verwehrt wird“, sagt Anne-Christine Herr. Außer, wenn der Erblasser zu Lebzeiten bestimmt, dass sie nicht vererbt, sondern gelöscht werden sollen. Per Testament zum Beispiel.
Engemaier wünscht sich, dass seine Tochter im Internet zur Ruhe kommt. Vergeblich. Denn der Erbe des digitalen Nachlasses ist nicht er, sondern der Witwer. „Wahrscheinlich war der Ehemann ihr näher als ich, hat sie besser gekannt und weiß schon, was das Richtige ist.“
Er latscht in Trekkingsandalen durch sein Wohnzimmer, eine Staffelei mit Leinwand steht vor Topfpflanzen, Herzen aus Glas und Schmetterlinge aus Plastik baumeln von der Decke, steigt eine hölzerne Wendeltreppe empor und öffnet die Tür zu seinem Arbeitszimmer. Aus einem Regal lächeln Engemaiers Kinder, vier sind es insgesamt. Oben die Fotos der Lebenden, unten die der Toten.
Sachte und bestimmt, immer darauf bedacht, nicht zu lange auf einer Seite zu verharren, blättert er durch ein schweres Fotoalbum. Das Pergaminpapier raschelt. Fotos aus den 70ern, 80ern, aufgenommen mit einer Werra-3-Kamera, Carl Zeiss Jena. Die Familie an der Ostsee, Evas erster Schultag. Er seufzt angesichts dieser Reise durch die Zeit. „Wenn man damals gewusst hätte, wie sich das alles entwickelt. Aber zum Glück hat man es nicht gewusst.“
Er klappt das Buch zu. „Wissen Sie“, sagt er, „der Mensch schafft es zu vergessen. Im Gegensatz zum Internet.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Wirkung der Russlandsanktionen
Der Rubel rollt abwärts
Frauen in der ukrainischen Armee
„An der Front sind wir alle gleich“
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“