: Small is powerful
BUNSEN
Small is powerful
Die zwei großen wissenschaftlichen Revolutionen dieses Jahrhunderts - Relativitätstheorie und Quantenmechanik haben heftige Turbulenzen, bis heute andauernden Widerspruch und Verwirrung verursacht. Die neuen Theorien über das Chaos hingegen, die als dritte Revolution des 20. Jahrhunderts bezeichnet worden sind, schleichen sich auf leisen Sohlen ins allgemeine Bewußtsein: daß Ordnung das Chaos braucht wie die Rose den Mist dünkt dem gesunden Menschenverstand irgendwie selbstverständlich. Zwar werden die Herolde der turbulenten Wissenschaft nicht müde zu erklären, wie paradox das Ganze eigentlich ist - der vom Chaos hingerissenen Öffentlichkeit aber scheint die Sache ziemlich logisch. Seltsame Attraktoren, Apfelmännchen, die endlos mäandernden Strukturen der Mandelbrot-Graphiken wurden, sozusagen vom Labortisch weg, zu Kult- und Kunstobjekten - doch es ist nicht nur die völlig neue, erst mit dem Computer-Auge sichtbare Schönheit, die für die Akzeptanz der Chaostheorie sorgt. Es ist die dumpfe Ahnung, daß ein aktueller Furz in Frankfurt in drei Wochen sehr wohl für ein Gewitter in Peking sorgen kann, dergestalt, daß er als kleine heiße Wolke gen Osten fliegt und dort genau den Temperatunterschied auslöst, auf den der fürchterliche Wolkenbruch über dem „Platz des himmlischen Friedens“ gewartet hat. Was uns die Chaostheorie erzählt, ist, daß kleine Handlungen gigantische Explosionen hervorrufen können. Zum anderen aktualisiert es, auf mathematischem Wege, uralte Ideen und Schöpfungsmythen, wie etwa der babylonischen Urmutter Tiamat, in denen Chaos und Ordnung schon immer eine Medaille darstellten. Sowie die Arbeiten der Hermetiker und Alchimisten des Mittelalters, deren erstes Gesetz „Wie oben, so unten“ durchaus als avancierte Chaos-Formel gelten kann. Dies experimentell bewiesen zu haben, dafür wurde Ilja Prigogine 1977 mit dem Nobelpreis für Chemie ausgezeichnet - ihm hätte eigentlich der Nobelpreis für Optimismus gebührt. Denn damit ist die Aussicht, daß nach dem Entropiegesetz eh alles im „Wärmetod“ enden muß, vom Tisch - statt in ein lauwarmes Universum der Langeweile umzukippen, haben dynamische Systeme die Eigenart, spontan neue Ordnungen zu bilden. Und: Je komplexer und ferner vom Gleichgewicht ein System, desto kleiner der nötige Anstoß für einen Sprung. Fast scheint es, als hätten die beiden ersten Revolutionen der Visualisierungskraft der dritten bedurft, um langsam in das praktische Denken einzusickern. Was der Quantenmechanik noch als skandalöser Irrationalismus vorgehalten wurde - daß es Wirkungen ohne Ursache geben kann und das Bewußtsein des Beobachters über die Realität entscheidet - wird der Chaos -Theorie hoch angerechnet. Für den Beobachter bedeutet das: Sein Bewußtsein entscheidet nicht nur, ob aus einer Wahrscheinlichkeitswolke flimmernder Teilchen/Wellen ein 1a Fernsehbild entsteht, es ist tatsächlich in der Lage, Berge zu versetzen. Mit einer noch so winzigen, winzigen Schmetterlingsaktion.
Es gibt nichts zu tun, packen wir's an. Der Chaos-Kenner Wallace Stevens hat es so ausgedrückt: „A.) Eine gewalttätige Ordnung ist Unordnung B.) Eine große Unordnung ist Ordnung. Die beiden Dinge sind eins.“
Mathias Bröcker
BRENNER
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