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Slán Martin von RALF SOTSCHECK

Der Anruf von Franz Josef Degenhardt traf mich unvorbereitet: „Mein Bruder Martin ist vor einer halben Stunde gestorben“, sagte er. Am Vorabend hatte ich noch mit Martin telefoniert, ein paar Tage zuvor waren wir in Galway an der irischen Westküste Austern essen. „Es sind die letzten Austern der Saison“, hatte Martin erzählt, „ich habe sie für uns reservieren lassen.“ Martin legte Wert auf gutes Essen und edle Getränke, er hatte eine feine Nase für Delikatessen, die er auch in den abgelegensten Winkeln Irlands aufstöberte. Und er teilte sie gerne mit Freunden und Nachbarn, Großzügigkeit war für ihn selbstverständlich.

Martin war Manager seiner Frau, der Grafikerin und Malerin Gertrude Degenhardt, er organisierte ihre Ausstellungen, kümmerte sich um die Kataloge und den Verkauf. In seiner knappen Freizeit kamen ihm manchmal skurrile Ideen. In der taz hatte er einmal das Foto eines Schildes gesehen: „68er Gemeinschaft – Eingang für die ältere Generation hinter dem Haus.“ Martin ließ sechs Stück von dem Schild anfertigen und verschenkte sie an Alt-68er-Freunde.

Martin stammte aus Schwelm in Westfalen und zog später nach Mainz. Er war einer der Initiatoren der Folk-Bewegung in den Sechzigerjahren. Er hatte die Essener Songtage und die Zeitschrift „Song“ begründet und gehörte zu den Aktivisten der ersten deutschen Folkfestivals auf Burg Waldeck.

Die Musik war es auch, die Martin und Gertrude nach Irland führte. 1974 lernten sie die Fureys kennen, eine Familie von Fahrenden, mit denen sie dann durch Irland fuhren. Dabei entstand die Idee, ein Buch mit Zeichnungen und Radierungen irischer Motive zu machen. Fortan kehrten Martin und Gertrude regelmäßig nach Irland zurück, schließlich kauften sie ein kleines Cottage in Connemara nördlich der Bucht von Galway.

Dort entstanden viele von Gertrudes Bildern, in denen die Lieder der Straßenmusikanten, die Schreie der Tänzer und die Geschichten der Stammgäste im Pub sichtbar werden. Immer wieder schmuggelte sie Martin in die Bilder ein. Wenn er mit seiner Mütze, dem grauen, zotteligen Bart und den blauen Latzhosen vor seinem Bier saß, so meinte man, er gehöre nach Connemara.

Als ich sie dort vor langer Zeit zum ersten Mal besuchte, erzählte Martin, dass der Hausmeister, der sich um das Cottage kümmerte, wenn die beiden in Mainz waren, ein merkwürdiger Mensch sei. „Er baut Gemüse hinter seinem Haus an“, sagte Martin. Das war eigentlich nicht ungewöhnlich. „Ja, aber die Beete kommen mir komisch vor.“ Hinter dem zweiten, kleineren Cottage, das die Degenhardts für den Hausmeister ausgebaut hatten, waren die Gemüsebeete grabförmig angelegt. Am Kopf jedes Beets steckte ein Holzkreuz mit einem Frauennamen. „Er sagt, das seien die Namen seiner ehemaligen Freundinnen“, erzählte Martin verwundert.

Vor zwei Wochen ist Martin in dem Cottage gestorben, er wurde nur 64 Jahre alt. Heute wird er in Mainz beerdigt. Slán Martin. Ní bheidh do leithéid ann arís. Tschüss Martin. Einen wie dich gibt’s nicht nochmal.

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