Sir Simon Rattle dirigiert Leoš Janáček: Nur live unsterblich
Die Oper „Die Sache Makropulos“ von Leoš Janáček überzeugt an der Staatsoper Berlin durch die Musik, auch wenn die Inszenierung etwas lahmt.
Sir Simon Rattle fühlt sich wohl an der Staatsoper. Er wohnt sowieso immer noch am Schlachtensee – von 2002 bis 2018 war er Chefdirigent der Berliner Philharmoniker –, nur sein Orchester ist in London zu Hause. Nächstes Jahr wird er das Orchester des Bayerischen Rundfunks übernehmen. Von München ist es näher nach Berlin, wo er mindestens einmal im Jahr an der Staatsoper eine richtige Oper aufführen kann, mit Bühnenbild und allem. Unvergessliche Aufführungen waren das Ergebnis, „L’Etoile“ von Emmanuel Chabrier etwa oder „Aus einem Totenhaus“ von Leoš Janáček.
Letztes Jahr sollte es wieder Janáček werden, aber „Jenufa“ in der Regie von Damiano Michieletto scheiterte an Corona. Es gab einen notdürftig den Hygieneregeln angepassten Stream. Die dazu passende Home-Opera gab es nicht, weil es sie nicht geben kann. Oper ist nur live ein Erlebnis. Zu Hause ist sie ein langweiliges Museum für schöne Stellen und schöne Stimmen.
Auch zuvor gingen Rattles Gastspiele Unter den Linden nicht immer gut aus. Mal hatte ihm die Intendanz das Freiburger Barockorchester in den Graben gesetzt, das für eine dekorative Lichtschau von Ólafur Elíasson Rameau spielen sollte, aber nicht konnte. Oder Monty Pythons Terry Gilliam rotzte ihm für „La Damnation de Faust“ von Hector Berlioz eine grausliche Nazi-Schlachtplatte auf die Bühne.
Jetzt aber war alles gut für Rattle. Er liebt Janáček. Mit dem ersten Ton geht eine Welt auf, die bis heute im Wortsinn unerhört ist. Sie erinnert an nichts davor. Das Spiel der Staatskapelle ist ein dicht gedrängtes Abenteuer des Hörens und des Verstehens.
Der Tonfall der Straße
Janáček hat sich ständig den Tonfall des Geredes von Leuten auf der Straße oder im Wirtshaus notiert und daraus Melodien für Singstimmen und Orchestersätze entwickelt, die viel genauer sagen können, was jemand will oder fühlt, als es mit Worten möglich ist.
Worum es in seiner vorletzten Oper, „Die Sache Makropulos“, geht, ist ohnehin nicht leicht zu sagen. Hauptfigur ist eine Operndiva. Sie besucht eine Prager Anwaltskanzlei, die seit Jahrzehnten um das Erbe eines vor hundert Jahren verstorbenen Barons streitet. Dafür hat die schöne Sängerin erstaunlich sachdienliche Hinweise anzubieten. Sie weiß zum Beispiel, wo der Baron das Testament versteckt hat, das bisher nicht auffindbar war.
Der Text beruht auf einer Komödie von Karel Čapek, einem Prager Literaten zwischen den Weltkriegen. Janáček hat das Original verkürzt und auf das Rätsel dieser Frau konzentriert. Sieben Männer verlieren in sieben Gesangsrollen um sie herum den Verstand und wollen am Ende ein Gericht der Frustrierten über sie abhalten, weil sie ein solches Monster an Gefühlskälte sei.
Ist sie nicht, sie hat immer nur die Wahrheit gesagt. Die Männer schätzten ihr Alter immer mal zwischen 30 und 40. Auch das ist wahr. Sie ist 37 und kam nur zu den Anwälten, weil zum Erbe des Barons auch das Rezept ihres Vaters Hieronymos Makropulos gehört, der vor 300 Jahren Leibarzt des Kaisers Rudolf war. Sie braucht eine neue Dosis für die nächsten 300 Jahre jugendlicher Schönheit.
Opfer eines Menschenversuchs
Čapek hat mehrere Science-Fiction-Romane geschrieben und das Wort „Roboter“ geprägt. Claus Guth hält sich an das literarische Genre. Die 337 Jahre alte Diva verschwindet zwischen den Akten in einem weißen, vernebelten Raum. Sie kleidet sich dort um für den nächsten Auftritt. Eine kleine Puppe im Ballettkostüm wird am Bühnenrand entlanggezogen, damit wir nicht vergessen, dass diese lebenslustige Frau das Opfer eines Menschenversuchs ist.
Mag sein, aber für das absurde Theater auf der Bühne ist Guth nichts eingefallen. Dunkle Flure mit Türen sperren die Figuren ein in den Stil der Entstehungszeit, Uraufführung 1926 in Brünn. Geil und verblödet krabbeln Wanzenmänner darin herum. Guth hat ihnen keine Rollen aufgegeben, deswegen ist nichts zu sehen.
Wieder am 19./22./25. + 27. Februar in der Staatsoper Unter den Linden in Berlin
Das stört nicht weiter, weil Rattle die Staatskapelle dirigiert und Marlis Petersen die Diva singt. Janáček war ein religiöser Mann, seine Opernsängerin ist kein Kunstprodukt der Wissenschaft. Sie ist nur schlau genug, das Rezept ihres Vaters wieder in die Hand zu bekommen. Marlis Petersen war schon zuvor großartig, jede Nuance ihrer knappen Sprachmelodien war zu hören, manchmal auch spröde und hart gesungen.
Zum Ende lässt sie den vollen Wohlklang ihres Soprans leuchten. Die Diva hat genug, alles ist gleich und wertlos, gut und böse, Männer und Frauen. Sie schenkt das Rezept einer jungen Sängerin. Der Chor schreit auf, sie gibt es aus der Hand, ein Statist zündet es an. Links hat Guth zum ersten mal eine Glastür geöffnet, Marlis Petersen geht hinaus ins helle Licht.
Natürlich ist das fromm und nur deshalb kein Kitsch, weil Janáček die Kunst seiner sprechenden Melodien auf die Spitze treibt.
Wahrscheinlich möchten wir alle nicht wirklich ewig leben. Besonders tiefsinnig ist dieser Gedanke jedoch nicht. Er ist einfach nur die Musik geworden, die hier endlich einmal in allen Einzelheiten zu hören ist. Unerhört ist das.
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