piwik no script img

Sinti und RomaChronist des verdrängten Leids

Der Aktivist Reimar Gilsenbach kämpfte gegen das Vergessen der NS-Verfolgung von Sinti und Roma. An seinem 100. Geburtstag wird ihm gedacht.

Charlotte Rosenberg, die Großmutter von Otto Rosenberg mit Schwester und Bruder im Lager Marzahn Foto: Gedenkstätte Zwangslager Berlin-Marzahn e. V.

Der Brief

Anfang 1965 veröffentlichte die beliebte DDR-Zeitung Wochenpost den Brief einer Sintiza aus Leipzig. Sie schilderte darin die Verfolgung in der Zeit des Nationalsozialismus, aber auch die Diskriminierung in der DDR. Man sieht in uns Tagediebe, nennt uns Z*g*n*rbrut […] Aber keiner denkt daran, dass auch wir bittere Not gelitten haben, dass sich die Erde von ­Auschwitz und anderen Lagern rot von unserem Blut färbte. […] Für einen Artikel wäre ich dankbar.“

Der Redakteur, der diese Briefe empfing, war Reimar Gilsenbach. Er recherchierte, fand weitere Sinti und schrieb einen Artikel – der allerdings nie veröffentlicht wurde. Darin erwähnte er erstmals das Zwangslager Marzahn. In Zusammenhang mit der Vorbereitung auf die Olympischen Spiele 1936 internierten Polizeieinheiten dort Sinti und Roma.

Als er im Mai 1966 in einem Urania-Vortrag „Der Weg der Z*g*n*r“ an der Humboldt-Uni über das Leid von Sinti sprach, die nicht als „Verfolgte des NS-Regimes“ anerkannt wurden, meldete das „Komitee der Antifaschistischen Widerstandskämpfer“ Zweifel an dieser Aussage an. Gilsenbach versprach Beweise, machte Tonbandaufnahmen mit drei Frauen, die alle im Lager Marzahn waren.

Seine Wut über die Ungleichbehandlung der Sinti und Roma wuchs. In einem Text schreibt er damals: „Dieses Verbiegen des Antifaschismus, dieses Zurechtstutzen auf die einzig erwünschte Linie, dieses Nicht-Wissen-Wollen von so vielen Opfern war gegen Größe und Geist des Antifaschismus gerichtet, hat ihm geschadet, hat seine Glaubwürdigkeit in Frage gestellt.“

Der Freigeist

Bis ins hohe Alter schwärmte Reimar Gilsenbach vom „Freien Denken“ in einer Anarchistensiedlung am Niederrhein, in der er 1925 geboren wurde und in den ersten Lebensjahren „wie eine wilde Waldblume“ aufwuchs. Zwischen reformfreudigen jungen Leuten mit gemeinschaftlichem Eigentum, die in wilder Ehe und in der Natur lebten.

1932 kam er in eine Freie Schule mit sozialdemokratischen und kommunistischen Lehrern ohne Prügelstrafe und Religion. Frei und unangepasst, das wollte er danach immer bleiben. Im ersten Kapitel seiner Autobiografie „Wer im Gleichschritt marschiert, geht in die falsche Richtung“ deutet er selbst vage die Herkunft seines Vaters als Angehöriger der Minderheit an.

Nach dem Tod des Vaters 1935 nahmen ihn Pflegeeltern auf. Er besuchte eine Oberschule in Dresden, wurde wegen Texten gegen den Krieg angezeigt. Mit achtzehn Jahren kam er 1943 an die Ostfront. Er desertierte, lief zur Roten Armee über. Er weigerte sich, für die antifaschistische Organisation deutscher Kriegsgefangener „Nationalkomitee Freies Deutschland (NKFD)“ Kameraden zu bespitzeln. Dann geriet er krank in ein Lazarett, erst 1948 kehrte er zurück. Er wurde Journalist bei der Sächsischen Zeitung, 1952 Redakteur, später Chefredakteur von Natur und Heimat, der Monatsschrift des Urania-Verlages vom Deutschen Kulturbund in Berlin.

Obwohl er mit seinen frühen Umweltbüchern und ab 1981 mit seinen stasibeäugten „Brodowiner Gesprächen“ zwischen Künstlern und Wissenschaftlern bekannt wurde, widmete sich Gilsenbach immer weiter auch den Sinti und Roma. 1994 und 1998 veröffentlichte er erste Teile einer „Weltchronik der Z*g*n*r“.

Das Lager

Für ein „sauberes Stadtbild“ zur ­Naziolympiade 1936 hatten die Nazis schon im Frühjahr Antifaschisten inhaftiert und antisemitische Losungen und Verbotsschilder aus den Berliner Straßen entfernt, um die Judenverfolgung zu vertuschen. Und sie hatten begonnen, in Marzahn, auf Höhe des heutigen S-Bahnhofs Raoul-Wallenberg-Straße, ein Sammellager zu errichten, neben stinkenden Rieselfeldern und nahe am Friedhof. Bereits Ende Mai 1936 wurden dafür eilig Fäkaliengräben zugeschoben, dann eskortierte die Polizei Hunderte Berliner Sinti und Roma mit ihren Wohnwagen nach Marzahn.

Alles war ohne Rechtsgrundlage abgesprochen zwischen der städtischen Wohlfahrtsverwaltung, dem Berliner Polizeipräsidenten und dem Rassenpolitischen Amt der NSDAP-Gauleitung. Erst am 6. Juni 1936 erließ Reichsminister Frick einen Runderlass zur „Bekämpfung der Z*g*n*rplage“ und befahl dem Polizeipräsidenten von Hellersdorf einen „Landesfahndungstag nach Z*g*n*rn“. Alle, die als solche galten, wurden festgenommen. In einer Großaktion traf es am 16. Juli 1936 weitere 600 Menschen. 1938 waren über 850 interniert, bis 1945 etwa 1.200.

Mit Ausgangsverbot und Polizeibewachung standen auf dem „Rastplatz Marzahn“ ab Juli 1936 Hunderte Wagen und einige Baracken. Die Menschen dort lebten im größten Elend. Nur wer zum Holzsammeln, Einkaufen und zur Zwangsarbeit in Industriebetriebe musste, durfte raus. Anfang März 1943 wurden fast alle Insassen nach Auschwitz-Birkenau deportiert.

Unter den Insassen des Lagers war auch der junge Otto Rosenberg. Er durchlitt die Konzentrationslager Buchenwald, Mittelbau-Dora, Bergen-Belsen. Und gehört zu den wenigen Überlebenden. Später setzte er sich in Westdeutschland in jahrelangem Kampf für eine gerechte Entschädigung der Opfer des Lagers Marzahn ein. Ihr Recht darauf erkannte der Westberliner Innensenator 1987 an.

65 Sinti und Roma, so schrieb der Reimar Gilsenbach nach der Wende im Jahr 2001 in einer Opferdokumentation der Berliner Zeitung, wurden ab 1940 aus Marzahn als Komparsen für Leni Riefenstahls Film „Tiefland“ zu Dreha­rbeiten geholt. Im Alpendorf Krün bei Mittelwald und in Babelsberg stellten sie spanische Bauern, Mägde und Knechte da. Viele starben danach in Auschwitz.

Der Fürsprecher

In einem 2020 erschienenen Buch beschreiben die Autorin Simone Trieder und der Fotograf Markus Hawlik-Abramowitz das schwere Nachkriegsleben der Sinti in der DDR, aber auch der im Westen. Mit beeindruckenden Fotos, die Hawlik-Abramowitz schon 1983 für sein Fotografiediplom an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig anfertige.

Als im Mai 1946 in der Sowjetischen Besatzungszone für verfolgte Sinti und Roma Anträge auf Entschädigung möglich wurden, sollten sie einen festen Wohnsitz und feste Arbeit nachweisen. Simone Trieder schildert Fälle, in denen sich selbst Kommunisten, die das KZ überlebt hatten, in ihrer neuen Rolle als Landrat gegen eine Ansiedelung von „Z*g*n*rn“ in der Stadt aussprachen – wegen einer angeblichen „asozialen Lebensweise“ – ein Rückgriff auf nationalsozialistisches Vokabular.

Auch Reimar Gilsenbach setzt das Buch ein Denkmal. Es enthält Berichte darüber, wie er sich für eine Anerkennung einzelner Sinti als „Verfolgte des Naziregimes“ einsetzte, ihnen aus Tonbandinterviews Bewerbungsbiografien schrieb. Als Chance, nach überstandenen Lagern einem unwürdigen Leben zu entgehen.

Entschädigungen für die „Opfer der Nürnberger Rassengesetze“ galten nur für Juden. Nicht nur in Westdeutschland, sondern auch in der DDR gab es für Sinti und Roma keine Anerkennung als ethnische Minderheit. Die uralten Vorurteile gegenüber Angehörigen der Minderheit dauerten fort. In der DDR lebten gerade mal 600–700 Sinti. Die meisten waren auf der Suche nach letzten Verwandten in den Westen gezogen. Nur wer sich aktiv am Widerstand beteiligt hatte, konnte hoffen, „als Opfer des Faschismus“ Pensionen und andere Unterstützung zu bekommen.

Um auch einer Westberliner Sintiza zu helfen, als „Verfolgte des NS-Regimes“ anerkannt zu werden, schrieb Gilsenbach 1976 eine erste Dokumentation über das Zwangslager Marzahn. 1986 erschien sie noch einmal im Heft pogrom der Göttinger Gesellschaft für bedrohte Völker unter dem Titel „Hitlers erstes Lager für Fremdrassige“. Marzahn sei der Probelauf gewesen für die Judenverfolgung auf dem Weg nach ­Auschwitz, heißt es darin. Das Lager in Marzahn als eine Vorstufe zur Vernichtung.

Doch das seit 1951 existierende Berliner „Entschädigungsamt“ lehnte den Antrag der Sintiza zum Lager in Marzahn ab, da es sich bei diesem angeblich nicht um Haft, ­sondern um einen „zugewiesenen Z*g*n*rplatz“ gehandelt habe. Knapp zehn Jahre später hob das Landgericht Berlin den ablehnenden Bescheid auf und erkannte die Sintiza als „rassisch Verfolgte“ an. Ein später Sieg.

Die Gedenkstätte

In einer Eingabe an Erich Honecker forderte Gilsenbach 1985 neben mehr Rechten für die Sinti auch endlich eine Gedenkstätte für das Lager Marzahn. Mit Unterstützung des Pfarrers Bruno Schottstädt wurde daraufhin am 12. September 1986 auf dem alten Friedhof von Marzahn ein Gedenkstein eingeweiht. 1991 wurde dieser durch weitere Texte von Reimar Gilsenbach ergänzt.

Nachdem 2007 ein Platz auf dem ehemaligen Gelände nach Otto Rosenberg benannt wurde, gelang es 2011 auf Initiative seiner Tochter Petra Rosenberg, mit Unterstützung des Regierenden Bürgermeisters und des Bezirks Marzahn-Hellersdorf, endlich die „Gedenkstätte Zwangslager Berlin-Marzahn“ einzurichten. Gilsenbach erlebte das nicht mehr. Er starb am 22. November 2001 in Eberswalde.

Gemeinsam für freie Presse

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Alle Artikel stellen wir frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade in diesen Zeiten müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass kritischer, unabhängiger Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare